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DIE VERWANDELTEN

»Meine verletzten Figuren suchen Halt aneinander, entwickeln Überlebensstrategien und greifen auf traditionelle weibliche Formen des Kommunizierens zurück.«

– Ulrike Draesner –
Ulrike Draesner gibt den Verwandelten ihre Stimmen zurück. Sie erfinden sich neu, wechseln Sprache und Land, überraschen sich selbst mit ihrem Mut, ihrem Humor, ihrer Kraft. Die Bedeutung von Familie verändert sich, Freiräume entstehen. Die Verwandelten ist ein bewegender Mütter-Töchter-Roman über hundert Jahre europäischer Geschichte. Bewegend, aufwühlend, zärtlich, klug.

Wie schreibt man Krieg?

Ulrike Draesner im Gespräch

Von dem, was Frauen im Krieg geschieht, erzählt Ihr neuer Roman. Hat Krieg ein Geschlecht? Erleben Frauen und Männer ihn anders?

Mein Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt, der 2014 als Auftakt meiner Trilogie zu Flucht und Vertreibung erschien, erzählt eine vorwiegend männliche Geschichte. Als ich während der Recherche in Polen mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sprach, wurde mir klar, dass das weibliche Erleben ganz anders aussieht. Nicht nur von den konkreten Erfahrungen her, was Identität und Körperlichkeit angeht, sondern auch, was das Sprechen betrifft. Meine Gesprächspartnerinnen waren in ihren 80ern, sie schämten sich noch immer, Tabus und Verletzungen wirkten nach. Mir fiel damals erst auf, wie wenig ich über all dies wusste. Auch meine Großmutter hatte auf untergründig beredte Weise geschwiegen, sodass man spürte, »da ist etwas«, »es steht im Raum«. Swetlana Alexeijewitsch hat in ihrem dokumentarischen Roman Der Krieg hat kein weibliches Gesicht auf unheimliche Weise anschaulich gemacht, wie viele Frauen an der Front kämpften und was sie dort erlebten. In meinem Roman geht es um das weibliche Gesicht des Krieges innerhalb der Zivilbevölkerung.

Ihre Frauenfiguren könnten unterschiedlicher kaum sein: die nationalsozialistische Vorzeigemutter, traumatisiert vom eigenen unerfüllten Kinderwunsch, die mit aller Härte und Ideologie andere anweist, wie Kinder zu erziehen sind. Das Mädchen aus München Solln, das in einem Lebensbornheim der SS geboren ist. Die Anwältin von heute, auf den Spuren ihrer polnischen Familie, von der sie erst nach dem Tod der Mutter erfährt. Was verbindet sie dennoch?

Als Thema der Verwandelten kristallisierte sich im Arbeitsprozess die Frage heraus, wie weibliche Körper für Kriegszwecke missbraucht werden. Und zwar von jeder Seite, dem eigenen Staat wie »dem Feind«. Gleich welchen Alters, welcher Herkunft oder welchen sozialen Standes sie sind. Die latente Vorgewalt des Krieges in einem System, das Übergriffe gegen Dienstmädchen »übersieht«, wird damit ebenso darstellbar wie die Generationen überspannenden Konsequenzen von Zwangsmigration. Klasse und Macht, wenn man so will. Erzählt in einem Geflecht von Mütter-Töchter-Geschichten. Jede der Frauen ist sowohl körperlich als auch sozial einem Erleben ausgesetzt, mitunter schon als Mädchen, das ihr Begreifen und ihre Sprache übersteigt.

 

»Ich schreibe, um Stimmen hörbar zu machen, die gemeinhin überhört werden.«

 

»Vielleicht war die Kraft das Unsichtbarste an einer Frau«, schreiben Sie und erzählen von der unglaublichen Resilienz und Kraft der Frauen in Zeiten des Krieges. Wie funktioniert diese Kraft, die verhindert, dass man zerbricht? Woher kommt sie?

Ich weiß nicht, woher diese Kraft kommt. Sie ist etwas ganz Anderes als »Funktionieren« oder »Durchhalten«. Der Stoff des Romans ist dunkel, wenn man so will, doch die erzählten Geschichten sind es dank der Kraft der Figuren nicht. Ihre innere Kraft lässt sich nicht einfach so benennen und wird deswegen oft übersehen bzw. den Personen so lange abgesprochen, bis sie selbst nichts mehr davon wissen. etwa das Sticken, um sie als Formen des Widerstandes zu nutzen. Der Krieg und sein weltumstürzendes Ende setzen Räume frei, in denen Frauen ihre innere Identität überhaupt erst kennenlernen können. Sie sammeln Mut und erfahren, dass sie viel mehr Kraft- und Lebensfreude in sich haben, als jegliche Art von »Mädchen«-Ideologie ihnen je zugestehen wollte.

Sie stellen Ihrem Roman ein Motto von Ovid voran, überhaupt ziehen sich feine Linien zwischen »Die Verwandelten« und »Metamorphosen«. Was, wenn Gewalt Frauen die Sprache nimmt? Und wie gehen sie mit dieser Sprachlosigkeit um?

Mich hat erschreckt, wie viele Vergewaltigungen von Frauen Ovids Text enthält. Welche Funktion hat ein derartiges Erzählen im Wissenskanon der westlichen Gesellschaften? Warum ist das nötig und so erfolgreich? Die meisten Übersetzungen verbrämen die Gewalt, sodass man denken muss: Ach, diese Frau war heimlich doch auch ein bisschen einverstanden. Ich halte das für extrem giftig. Derartiges Übersetzen erzählt vor allem von uns und unseren Lügen. Im Original stellen Ovids Metamorphosen mit atemberaubender Präzision die Musterder Gewalt dar. So erstarren die Frauen bereits im Augenblick der Übergriffsabsicht.

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Schon das »Ansinnen«, das sie nur mehr als Objekte statt als Personen betrachtet, führt zu einem Identitätsverlust. Sie verstummen und können, verwandelt in eine Pflanze, den Ort der Verletzung nicht mehr verlassen. Trauma nennt man das.

Hundert Jahre umspannt ihr Roman – warum beschäftigen Sie sich noch einmal mit dem 20. Jahrhundert?

Ich schreibe, um Stimmen hörbar zu machen, die gemeinhin überhört werden bzw. sich dank bestimmter Machtstrukturen gar nicht erst äußern. Doch der Wunsch, zur Sprache zu bringen, ist kein Selbstzweck. Keiner meiner Romane mit historischen Stoffanteilen ist historisch um der Historie willen. Jeder von ihnen zeigt, wie wir uns heute Vergangenheit erzählen. Denn im Rückspiegel der Fiktion erscheint mit dieser erzählten Vergangenheit, wie wir unsere Gegenwart verstehen. Ich schreibe also darüber, wie wir uns als Menschen von heute die Vergangenheit vorstellen wollen. Welche Themen adressieren wir? Wer wird gehört? In diesem Spiegel erkennen wir, als wen wir uns selbst im Heute konstruieren.

»Die Verwandelten« erzählt von Krieg und Nachkrieg, Flucht, Vertreibung und Gewalt. In welcher Tradition sehen Sie Ihren Roman?

Mein Roman speist sich aus höchst unterschiedlichen Quellen. Swetlana Alexeijewitsch und Herta Müller sind für mich wichtige literarische Stimmen, wenn es darum geht, von staatlicher und kriegerischer Macht zu erzählen. Ebenso Barbara Yelin und Nora Krug mit ihren bildlichen-textuellen Arbeiten zu den Begriffen Heimat und Verlust. Hinzukommen historische Monographien zu Breslau, zur Thematik der Zwangsmigration, etwa von Andreas Kossert, und Timothy Snyders wegweisendes Buch Bloodlands. Und, nicht zuletzt, die zahlreichen Zeugenberichte und Spurensuchen, meine mit Frauen in Polen und Deutschland geführten Gespräche, Forschungsarbeiten zu Traumatisierungen, intergenerationellem Gedächtnis und spezifisch gegen Frauen gerichteten, »anerkannten« Kriegsstrategien.

»Schweigen hören« haben Sie in Ihrem Nachwort genannt, was Ihr poetisches Verfahren ist. War das auch ihr Antrieb hinter dem Roman: den Frauen ihre Stimme zurückgeben? Und den Nachgeborenen – auch sich selbst – durch das Verstehen, das dadurch möglich wird, ein dunkles Tuch vom Kopf ziehen? Ich muss an das Endmotto Ihres Romans denken: »Wenn jemand spricht, wird es hell.«

Ich würde mir nicht anmaßen, für jemanden sprechen zu können. Aber Literatur kann ein Thema zeigen und fühlbar machen. Natürlich kann man sich vieles anlesen, doch ich glaube nicht, dass es am Ende reicht. Für mich war, für die gesamte Arbeit an den drei Romanen, die sich mit den Folgen des gewaltvollen 20. Jahrhunderts für unsere Gegenwart auseinandersetzen, entscheidend, dass ich ein Kind von Kriegskindern bin. Ich wuchs in einer Familie mit Fluchterfahrung auf. Mit meiner Kinderhand strich ich über die Granatsplitter im Schädel meines Großvaters. Das war der erste Krieg. Der zweite Krieg war anders, er bestand aus Lücken: der tote Onkel, noch mehr Tote in der Familie, das verlorene Zuhause, die verlorenen Identitäten. Die erwachsenen Frauen in meinem Umfeld hatten Schreckliches erlebt. Ohne Worte gaben sie etwas von ihren Ängsten und Schmerzen an mich weiter. Aber auch von ihrer Überlebenskraft, ihrem abgründigen, niemals zynischen Humor, ihrem Mut zu einem »Weiter«.

In Ihrem Roman gehen die Schönheit und Poesie der Sprache und der Erzählung untrennbar zusammen mit der Härte und Brutalität des Erzählten. Wie war es, ein solches Buch zu schreiben? Wie lässt sich dieser Gegensatz ertragen?

Ein derartiger Stoff lässt einen nicht in Ruhe. An keinem Tag, in keiner Nacht. Die Angst und der unglaubliche Mut mancher der Frauen, ihre Zweifel und Irrtümer, wandern einem durch den eigenen Körper. Abstellen lässt sich das nicht, manchmal ist es akuter, dann wieder sanfter. Die Schönheit der Sprache umgibt die Figuren: sie tröstet sie. Doch sie verstört auch. Das Geschehen ist abgründig, tragisch und dann wieder komisch, beides zugleich. Nur so lässt es sich schreiben – und lesen. Mit einem derartigen Buch will ich ja gerade eines nicht: die Gewalt wiederholen. Es gibt keine explizite Gewaltdarstellung im Roman, nur streifende Erinnerungen, nur die Frage nach dem Danach.

Sie haben eindrucksvoll beschrieben, was es bedeutet, tabuisierte Themen aufzuschreiben und was es Ihnen abverlangt hat. Umgekehrt aus der Perspektive der Leserinnen gefragt: Was bedeutet es, Gewalt zu lesen, Gewalt lesend auszuhalten? Für mich persönlich ist die Literatur da bei all ihrer Härte immer auch ein Schutzraum: man ist nicht allein mit diesen Themen, man sieht sie mit Abstand, man bestimmt das Tempo, in dem man sich ihnen nähert.

Die Frage danach, wie ich ein derartiges Thema aufgreifen kann, ohne die den Frauen angetane Gewalt zu reproduzieren, hat mich lange beschäftigt. Doch gerade die Literatur bietet hier einen Weg, der anders ist als so manches, was man in visuellen Medien zu sehen bekommt. Ich muss nicht dramatisieren, nicht erschrecken, bediene keinerlei Voyeurismus. Ich ziele darauf, Inneres lesbar zu machen. Andeutungen genügen. So kann jede Leserin, jeder Leser sich ein eigenes Bild machen. Verharren. Sich befragen. Die eigenen inneren Resonanzebenen fühlen. Vielleicht nach langer Zeit einmal. Und beginnen, die eigene Familiengeschichte, das eigene Aufwachsen von einer ganz anderen Perspektive her zu verstehen. Nach der Veröffentlichung der Sieben Sprünge bekam ich zahlreiche Rückmeldungen, die mir von derartigen Erlebnissen und nach folgenden, ganz neuen Gesprächen mit nahestehenden Menschen erzählten. Ich hoffe, dass auch das neue Buch dazu etwas beitragen kann.

 

»Trost und Verstörung sind wesentliche
Möglichkeiten der Literatur.«

 

Wie real sind die Geschichten, die Ihrem Roman zugrunde liegen?

Die zwischen Breslau/Wrocław und Deutschland spielende Geschichte der Familie Valerius wurde mir von einer Leserin der Sieben Sprünge geschenkt. Es handelt sich um ihre Familiengeschichte, mit all ihren Lücken und ungeklärten Fragen. Ich habe sie verändert, recherchiert, erweitert, aber im Kern gibt es ein konkretes historisches Vorbild. Das beleuchtet allerdings nur einen Teil dessen, wonach Sie fragen. Mein Verständnis von Fiktion hat sich durch diesen Roman verändert: seine Protagonistinnen sind wie Mäntel oder Schutzhüllen, im Nachhinein um verletzte Körper geschlungen. Körper, die nie existierten, also um jene gelegt, die es gab. Die, verborgen von diesen Figuren, dank ihrer nicht »in sich verstummt« bleiben müssen.

Die Verwandelten ist nach Sieben Sprünge vom Rand der Welt und Schwitters Ihr dritter Roman zu dieser Thematik. Was macht die drei Romane in ihrem Zusammenhang aus? Wie unterscheiden sie sich in ihrer Perspektive auf das Thema?

Jeder Band ist ein für sich lesbarer, abgeschlossener Roman. Zwischen den Sieben Sprüngen und den Verwandelten gibt es ein paar Wanderfiguren und -motive, man kann sie wiedererkennen, muss aber nicht. Für mich sind die Romane drei Arten, mit life writing umzugehen. Jedes Werk bezieht sich auf andere Weise auf erlebte »Wirklichkeit«. Die Sieben Sprünge sind autobiographisch grundiert, Schwitters ist ein historisch-biographischer Roman, Die Verwandelten sind mit Hilfe von Interviews und Zeitzeugenerzählungen erfundene Fiktion. In allen wird thematisiert, welche intergenerationellen Folgen die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts bis heute zeitigt. Zunächst entstand die Idee, nach den Sieben Sprüngen, die im Kern die Geschichte meines Vaters erzählen, einen Parallelroman aus weiblicher Sicht zu schreiben. Schwitters kam hinzu mit der Frage, welchen Beitrag Kunst zu unserer Resilienz leistet. Heute sehe ich die Romane als eine Art Triptychon. Die beiden Flügel nehmen einander atmosphärisch und in ihren Schauplätzen auf. Mit unterschiedlichsten Menschen streifen wir zwischen 1905 und 2022 durch Mitteleuropa. Ihr Mittelstück, das sich auf eine öffentliche historische Persönlichkeit bezieht, führt uns nach Nordwesten, mitten hinein in das Leben eines Menschen, der sich trotz Schrecken und Not ständig neu erfindet. Männer, Frauen und Kinder erheben die Stimme, sieben Sprachen werden gebraucht, der umspannte Raum reicht von der Isle of Man in der irischen See bis nach Warschau. In allen drei Romanen geht es um Übersetzung: von Körpern, Familien, Identitäten. Alle Figuren müssen sich verwandeln.

Mit Ulrike Draesner sprach Susanne Krones, Programmleiterin Deutschsprachige Literatur beim Penguin Verlag.
Der fulminante Abschluss eines dreiteiligen Romanzyklus` zu Krieg, Flucht und Vertreibung

Roman,
Penguin Verlag

Erscheint am 08. Februar 2023
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-328-60172-2

Roman,
Penguin Verlag

Erschienen am 24.08.2020
Hardcover mit Schutzumschlag, 480 Seiten,
Mit farbigem Poster im Umschlag
ISBN: 978-3-328-60126-5

Roman,
Luchterhand Literaturverlag

Erschienen am 10.03.2014
Hardcover mit Schutzumschlag, 560 Seiten,
ISBN: 978-3-630-87372-5
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