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Einflüsse

Wege zwischen Welten

Literatur entsteht aus Wirklichkeit (having no alternative = Zitat Beckett = Zitat Bibel). Literatur besteht aus Sprache (having no other essence). Literatur ist Teil unserer Kultur. Kultur ist Teil unserer Wirklichkeit. Wirklichkeit ist nur grammatisch ein Singular. Wirklichkeit ist ein Beutelbegriff. Erbeutete Wirklichkeit (always being in alternatives), durch Sprache gebeugt, wird u.a. Literatur. Literatur ist Beutegut. Literatur ist Gut. Wirklichkeit, entstanden aus dem verborgenen Plural von Wirklichkeiten, durcherlebt (gebeutelt), in Sprache übersetzt, wird Wirklichkeit in Literatur (essence in alternatives).

ANNETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF
(1797 – 1848)

Anna Elisabeth Franziska Maria Adolphina Wilhelmina Ludowica, aufgewachsen in einer Wasserburg nahe Münster, ledig, unternahm 1841 eine Wasserreise besonderer Art: Sie besuchte ihre Schwester, die mit Familie im Meersburger Schloss lebte, am Bodensee. Kaum war »Nettchen« angekommen, traf auch Lewin Schücking ein, muntere 17 Jahre jünger als die Dichterin, ehrgeizig, westfälischer Neu-Schriftsteller. Manche reden von »mütterlicher Liebe« – Drostes Gedichte aus der Zeit erzählen etwas anderes. Im April ’42 reiste Schücking wieder ab. Die Dichterin, klein, blond, stark kurzsichtig, die Augen wölbten sich vor wie bei einem Frosch, ging wieder allein spazieren. Weibliche Welten? Ja, Annette war witzig, bissig, satirisch. Musste Nichten und Neffen hüten. Das Schloss in Meersburg besuchte sie noch zweimal; dort wohnte sie in der »Spiegelei« – freier Blick auf das spiegelnde Wasser des Sees. 1844 erschien auch Schücking wieder, mit frisch angetrauter Gattin. Droste ersteigerte ein Meersburger Haus samt Weinberg. Blicke auf Himmel und See. Schücking und Frau blieben drei Wochen, man kann sich ausmalen, was sich abspielte, er und Droste sahen sich danach nie wieder. Sie versuchte ihr Traubenglück: auspressen, keltern, trinken. Und schrieb Gedichte über Gruben, Pflichten, über Glauben und darüber, was man nicht glauben kann. Sie lachte gern. Krank war sie schon als Kind, blieb es ein Leben lang. Nervosität? Schwächlichkeit? Aus dem Rebenkeltern wurde nichts. Im Alter von 51 Jahren starb sie in Meersburg, wohl an einer Lungenembolie, die einzig wirklich eigenständige Dichterin deutscher Zunge des ganzen 19. Jahrhunderts. Ist das traurig? Ja.

Weiter-Lesen:
Emily Dickinson, Gedichte
Auszug aus „Schöne Frauen lesen“
von Ulrike Draesner
GERTRUDE STEIN
(1874–1946)

Abgebrochenes Medizinstudium in den USA, vermögende amerikanische Familie, ab 1903 als Kunstsammlerin in Paris. Picasso, Matisse, Cézanne. 1907 lernt sie Alice B. Toklas kennen, ebenfalls Amerikanerin, die ihre Lebensgefährtin wird. Die ersten literarischen Werke erscheinen. Stein schreibt Gedichte, Theaterstücke, eine a rose is a rose is a rose unverkennbare Prosa, die aus den Rhythmen von Satzperioden besteht: durch wiederholende Variation bewegt sich Sprache über die Figuren, die sie erzeugt. Erfolg bringt ihr das Buch Autobiographie von Alice B. Toklas – es erzählt, geschrieben von Stein, aus Alices Sicht über Stein und ihre Pariser Salons; Maler und Schriftsteller gehen ein und aus. Alice, so das erzählperspektivisch verrückte Buch, kocht, näht, pflegt Gertrudes Texte und ihre  notorischen Hunde. Gertrude selbst schreibt, versteht sich  auf die Kunst des Handlesens, ihre Linien zeigen, dass sie mit 72 Jahren sterben wird. So kommt es. Lange davor aber sagt Gertrude als Alice über sich: »Gertrude Stein war, in ihrem Werk, immer schon besessen gewesen von der intellektuellen Leidenschaft für Genauigkeit bei der Schilderung der inneren und äußeren Realität. Sie hat eine Vereinfachung bewirkt durch diese Konzentration, und als Resultat die Zersetzung der assoziierenden Emotion in Prosa und Poesie. Sie weiß, dass Schönheit, Musik, Dekoration, das Resultat von Emotion, nie deren Ursache sein sollten, sogar Ereignisse sollten nicht die Ursache von Emotion sein noch sollten sie der Stoff sein für Poesie und Prosa. Noch sollte Emotion an sich die Ursache von Poesie oder Prosa sein. Sie sollten in einer genauen Reproduktion entweder einer äußeren oder einer inneren Realität bestehen.«

Weiter-Lesen:
Romane von Henry James, etwa The Portrait of a Lady
Auszug aus „Schöne Frauen lesen“
von Ulrike Draesner
KARL VALENTIN
(1882 – 1948)

Er kommt aus München, alles außerhalb der Stadt gilt ihm als Ausland. Dennoch reist er 1936 nach Berlin, wo er »dummerweise« einen halben Tag zu spät für die Olympischen Spiele eintrifft. Da sitzt er, mutterseelenallein, im weiten Rund des neuen nationalsozialistischen Stadions und hat alle Triumphe verpasst! Einen Sketch ist das mindestens wert. Seit über 20 Jahren entwickelt er seine Karriere als Komiker und Filmpionier, Liesl Karlstadt hilft ihm als Bühnenpartnerin dabei kräftig auf die Sprünge. Im Leben heißen beide anders, sind aber ebenfalls ein „Paar. Valentins Familienverhältnisse (Ehefrau, Töchter) neigen dazu, sich zu verkomplizieren; die politischen Verhältnisse ebenfalls. Auftritte im Dienst der Nazipropaganda schlägt er aus, Späße über Hitler werden ihm zugeschrieben, er streitet die Urheberschaft ab. Der Krieg zwingt ihn, München zu verlassen, Valentin versucht, sich als Scherenschleifer durchzubringen, sehnt sich an die Isar zurück. 1947, befragt zu seiner Haltung zum Nationalsozialismus, gibt der bemerkenswerte Mann, der den deutschen Groteskfilm begründen wollte, Charlie Chaplin bewunderte und sich intensiv mit Psychologie auseinandersetzte, ein bemerkenswertes Interview. So wird es kolportiert:
Ein Münchner oder Schweizer Journalist fragt: »Mitglied der Nazipartei waren Sie natürlich nie, Herr Valentin, oder?«
»Nein«, sagt Valentin, »aber wissen S’, zu mir sind’s gar nie gekommen.«
»Und wenn sie gekommen wären, Sie wären natürlich sicherlich nie Mitglied geworden.«
»Ja, dann schon, wissen S’. Dann schon! Aber die sind gar nie gekommen.«
Sprachlosigkeit seitens des Journalisten, verständnisloses, verlegenes Lächeln, Wut:
»Was? Sie? … Ah, machen S’ doch keinen Witz! Sie wären doch nie Mitglied dieser Verbrecherpartei geworden.«
»Ja, doch! Wenn’s sein müssen hätt natürlich, weil ich eben Angst gehabt hätt, wissen S’, Angst!«

Weiter-Lesen:
Georg Ringsgwandl, Lieder, Texte, Filme
Harold Pinter, Dramen (Dialoge)
Auszug aus „Heimliche Helden“
von Ulrike Draesner
JAMES JOYCE
(1882 – 1941)

Es war bestimmt nicht einfach, James Augustine Aloysius Joyce zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, sich ein Leben lang in den Initialen JA:AJ selbst zu umklammern. Es war bestimmt nicht einfach, Stephen Dedalus zu werden. Es war bestimmt nicht einfach, ein Stück Dubliner Strand zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, Kirke zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, Irland zu verlassen. Es war bestimmt nicht einfach, Triest zu verlassen. Es war bestimmt nicht einfach, den Ulysses zu schreiben. Es war bestimmt ein teuflisches Vergnügen, den Ulysses zu schreiben und mit Finnegan’s Wake weiterzumachen. Es war bestimmt nicht einfach, Studenten Englisch beizubringen. Es war bestimmt nicht einfach, klüger als ein Lexikon zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, mit den eigenen Gedichten nie zufrieden zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, sich ständig Sorgen um die Familie zu machen. Es war bestimmt nicht einfach, halb blind weiterzulesen. Es war bestimmt nicht einfach, die Wortfolge »three Quarks for Muster mark« für die Quantenphysik zu erfinden. Es war bestimmt nicht einfach, Jacques Lacan zu seinem Sinthom (anstelle von Symptom) zu inspirieren. Es war bestimmt nicht einfach, James Joyce zu sein. Es war bestimmt zweifach: höllisch und schön.

Weiter-Lesen:
Gertrude Stein, Tender Buttons und andere kurze Prosa
Italo Svevo, Zeno Cosini (oder:Zenos Gewissen)
Slavoj Zizek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst
Auszug aus „Heimliche Helden“
von Ulrike Draesner
FRIEDERIKE MAYRÖCKER
(*1924)

Ihre Wohnung in Wien ist Legende. Ihr Schreiben ebenso: eine Verzettelung,ein Seitensturm, eine Verschmelzung, die Leben und Schreiben ununterscheidbar macht. Lange ist sie nicht umgezogen. Lange, von 1954 bis zu seinem Tod 2000, lebte sie mit dem Dichter Ernst Jandl. Mayröcker ist eine Früharbeiterin: um vier Uhr morgens geht es los. Lebensschriften: Mayröcker ver-schreibt, was sie sieht, empfindet, lebt. Gedichte, Prosa, Mischformen, Hörspiele – das umfangreichste Werk aller Schriftsteller/innen in diesem Buch. Mit 82 Jahren entwickelt sie sich noch immer, verändert, erfindet, sucht. Lange Zeit stand sie im Schatten Jandls, zudem quer zu ihrer Zeit. Auch dies scheint sich erst mit dem Alter zu ändern. Oder sollte es damit zu tun haben, dass wir uns weiterhin (s. die Bachmann-Rezeption) schwertun, mit den Werken weiblicher Dichter umzugehen: wer dürfen sie sein? Wo hören wir ihre Stimme, und wie? Mayröckers Prosa stürmt leichthin, mit großen Sprüngen, voran. Dazu gehören Selbstwitz, Ironie und eine große Freundlichkeit im Umgang mit anderen. Sie schreibt an den Konzepten Person, Identität, Erinnerung. Die Augen versteckt sie gern unter einem langen schwarzen Pony. International ist sie im Verhältnis dazu, wie wichtig ihr Werk auch für die jüngeren Schreibenden ist, zu wenig bekannt.

Weiter-Lesen:
Jacques Derrida, Friedrich Hölderlin, das Tagebuch von Gerard Manley Hopkins, dazu Musik, etwa von Schubert, von Bach.
Auszug aus „Schöne Frauen lesen“
von Ulrike Draesner
GUSTAVE FLAUBERT
(1821 – 1880)

Achet Chufu, Horizont de Cheops – im Dezember 1849 stehen Flaubert und sein Freund Maxime du Camp vor der 140 Meter hohen Pyramide bei Gizeh. Flaubert befindet sich im »besten Mannesalter«, viele Badehäuser werden besucht, zahlreiche Mädchen und Knaben aus der Nähe angesehen. Gustave steckt sich mit Syphilis an, alles andere hingegen läuft wie vorgesehen: Maxime und Gustave schlafen am Fuß der Pyramide in einem Zelt, um am nächsten Morgen vor der Hitze des Tages die Besteigung zu wagen. Gustave, »bestes Mannesalter«, leider etwas dick, beginnende Glatze, keinerlei Kondition, braucht Hilfe: zwei Ägypter schieben, zwei andere ziehen ihn hinauf. Oben wartet bereits Freund Maxime, Flaubert findet eine Visitenkarte, ausgelegt wie ein Osterei: Humbert, Frotteur – Rouen. Das also ist ihr Humor: natürlich hat Maxime die Karte platziert. Doch, besser noch: Flaubert selbst brachte sie nach Ägypten, hatte sich bereits zu Hause den Pyramideneffekt ausgedacht. Effekte, unwahrscheinliche Übereinstimmungen, Zufälle und Zusammenhang. Auf die Bourgeoisie spottete Flaubert gern, doch als Madame Bovary Erfolg hatte, ließ er sich das Pariser Gesellschaftsleben durchaus gefallen – seiner Emma gar nicht so unähnlich. Sogar das Kreuz der Ehrenlegion trug er auf dem Busen, ganz wie der lächerliche Bovary-Apotheker Homais. Aber die Räume selbstironischer Spiegelung sind unendlich – mise en abîme nennen die Franzosen das, »an den Abgrund setzen«. Beine baumeln lassen, Horizont genießen. Zu Hause lebte Gustave mit Mutter und Nichte, aus jeder Generation war in der einst großen Familie nur einer übrig geblieben. Später, als er allein war, kaufte er sich einen Windhund und träumte von Prosa um nichts. Er starb plötzlich, erst 58 Jahre alt; als man ihn fand, war seine Faust so verkrampft, dass man keinen Handabdruck nehmen konnte. Auch dies – ein Horizont. Im Übrigen war Flaubert stark kurzsichtig; er verstand es, Poren zu sehen.

Weiter-Lesen:
Gustave Flaubert, L’Education sentimentale
Julian Barnes, Flaubert’s Parrot
Auszug aus „Schöne Frauen lesen“
von Ulrike Draesner
VLADIMIR NABOKOV
(1899 – 1977)

Vladimir Nabokov schlüpft durch Pnin in den Frühling von Fialta, um als HH in den USA zu telefonieren. Als Studentin in Oxford hatte ich einen sehr großen, sehr dünnen philosophischen Kommilitonen, der sich nachts an Baumäste hing als wären sie Reckstangen, denn sein langer Rücken musste ausgehängt werden. Die städtische Polizei kannte ihn bald und hupte, wenn sie am treeman (the German) vorbeifuhr. Er hatte einen Lolitaschrein in seinem Zimmer: das Buch mit dem Lolita-rosa-Herzenbrille-Cover, umwunden mit einer in wechselnden Farben blinkenden Lichterkette. Ganz italienische Madonneninstallation.

Es fehlte nicht viel: beinahe hätte ich niemals Nabokov gelesen.

Weiterführende Lektüre:
Jennifer Egan, A Visit from the Goon Squad
Ali Smith
, To be Both
Auszug aus den Erinnerungen als Studentin in Oxford
VIRGINIA WOOLF
(1882 – 1941)

Gordon Square, London-Bloomsbury: lautstark warb eine kleine Kommune für freie Liebe, die Bibliothek des British Museum lag um die Ecke, die Zeitungsredaktionen der Fleet Street waren nah. In das helle alte Haus Nr. 46 zogen im Sommer 1904 Vanessa, Adrian und Thoby Stephen; die Vierte im Bunde, Virginia, war krank und wurde in Cambridge behandelt. Nach dem Tod des Vaters im Februar des Jahres hatten die Geschwister eine Europareise unternommen, am Ende hörte Virginia Stimmen, litt an Kopfschmerzen, Herzbeschwerden und warf sich aus einem Fenster. Erst im Winter kam sie nach London, das Leben sollte nun anders werden: die Geschwister, die schon 1895 die Mutter verloren hatten, waren endlich unter sich, Thobys Studienfreunde kamen zu Besuch, einer von ihnen
hieß Leonard Woolf. Sieben Jahre später sah er, der inzwischen im englischen Kolonialwesen in Indien arbeitete, Virginia wieder. Zur Hochzeit im August 1912 quittierte er den Dienst und schloss mit seiner Frau einen doppelten Pakt. Sie wollte keinen Sex, er wollte, dass sie jeden Morgen schreibt. Nun lebten die Woolfs in London sowie auf dem Land; immer wieder erkrankte Virginia, wurde in Kliniken behandelt. War sie gesund, hielt sie Vorträge, schrieb Rezensionen, scharfsinnige Essays zur (englischen) Literatur und ein erstes fiktives Buch. Es wurde 1919 gedruckt. Die (natürlich kinderlose) Ehe schien der Autorin gut zu tun, in rascher Folge publiziert sie in den 20er-Jahren ihre wichtigsten Romane. Auf einem Gartenfoto kann sie, unter breitkrempigem Hut mit großer weißer Feder, in Spitzenbluse, Rüschenrock, Zigarette im Mund, den Hals durchgedrückt, so dass man den Kehlkopf sieht, scharf schauen wie ein Mann. Im Vergleich zu einem Jugendfoto von 1903 wirkt sie kaum gealtert. Um sich zwischen den Romanen auszuruhen, schreibt sie 1933 ein kleines Buch über den Hund des Dichterpaares Browning, Flush – und sitzt, ein paar Jahre später, mit seidenhaarigem Setter im Garten ihres Landhauses, an eine Blumenurne gelehnt. Schauen kann sie nun wie eine Hagestölzin, ihr Körper ist lang und dünn, Augen gesenkt, schlichtes Kleid – sie wirkt anwesend, doch fort. Im Januar 1939 besuchen die Woolfs Dr. Freud in Hampstead. Der zweite weltweite Krieg bricht aus. Virginia Woolf schreibt, mit Mühen, ihren letzten Roman, Between the Acts.

Weiter-Lesen:
Michael Cunningham, The Hours
Auszug aus „Schöne Frauen lesen“
von Ulrike Draesner
GOTTFRIED BENN
(1886–1956)

1905 durfte der Pfarrerssohn aus dem ländlichen Ost-Elbien, der das Gymnasium in Frankfurt an der Oder besucht hatte, endlich tun, was der Vater bislang verhindert hatte: Gottfried Benn begann in Berlin Medizin zu studieren. Aufgenommen hatte ihn die Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen; das „Studium kostete fast nichts, im Gegenzug musste man sich verpflichten, für jedes Studienjahr ein Jahr als Militärarzt zu dienen. Benn war als diensttauglich eingestuft und wies knapp das nötige Körpermaß auf (170 cm). Ab Sommer 1912 diente er als Arzt bei einem Infanterie-Regiment in Berlin-Spandau, allerdings wurde er schon im März 1913 aus dem Dienst entlassen. Er war bei einem Ritt kollabiert. Der angebliche Grund: Wanderniere. Ein diffuser medizinischer Befund. Benn betont die Freiwilligkeit seines Ausscheidens; als Dichter ist er dank der 1912 veröffentlichten Morgue-Gedichte inzwischen (berüchtigt-)berühmt. 1914 zieht er in den Ersten Weltkrieg. Er hat Glück, wird schon im Oktober als Arzt in Brüssel stationiert und kehrt 1917 nach Berlin zurück, um seine erste Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten zu eröffnen. Das Muster wiederholt sich: Fast 20 Jahre später, 1935, flüchtet Benn sich in die Wehrmacht. Er selbst bezeichnet den Schritt als »eine aristokratische Form des Exils«. In dem Kapitel »Block II, Zimmer 66« seines biographischen Werkes Doppelleben berichtet er über seine Arbeit in der Rekrutenkaserne von Landsberg an der Warthe. Frisch Eingezogene, ganz Junge und ganz Alte, werden hier drei Wochen lang ausgebildet. »Dann, eines Nachts, wird angetreten mit Tornister, zusammengerolltem Mantel, Zelttuch, Gasmaske, Maschinenpistole, Gewehr – fast ein Zentner Gewicht – und fort geht es zur Verladung, ins Dunkle. Eine Kapelle, die man nicht sieht, führt vorneweg, spielt Märsche, flotte Rhythmen, hinter ihr der lautlose Zug, der für immer ins Vergessen zieht.« Insbesondere auf späten Fotos blickt Benn melancholisch nachdenklich in die Welt. Zu diesem »dichterischen« Ausdruck trägt nicht unwesentlich das immer etwas hängende linke untere Augenlid bei. Bruder Theodor berichtet, dass Benn zu Weihnachten 1908 mit einer frischen Mensur im Elternhaus erschien. Ein Kommilitone hatte einen »vortrefflichen Durchzieher gelandet«, der den Knochen links vom Auge traf, die Nase halb durchschlug, das Lid verletzte. Der fromme Vater war bestürzt (wie sieht das in der Gemeinde aus); Gottfried erfand eine Lüge; der Gesichtsausdruck blieb.

Weiterführende Lektüre:
Holger Hof, Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis. Eine Biographie, Stuttgart 2011
Jahrbuch der Lyrik, hg. von Christoph Buchwald u.a., alle Jahrgänge seit 1979
Auszug aus „Heimliche Helden“
von Ulrike Draesner
HEINRICH VON KLEIST
(1777–1811)

Da steht er, ist knapp über 20 und weiß nicht, was aus ihm werden soll. Die erste Karriere als Soldat der königlich-preußischen Armee – Sturmangriffe, lange Märsche, Drill, Gehorsam, Lebensgefahr – hat er abgebrochen, hat gebrochen mit der Offizierstradition der Familie. 1788 starb der Vater, 1793 die Mutter, als Waise kehrte Kleist sechs Jahre später in das Elternhaus in Frankfurt an der Oder zurück. Er sucht, phantasiert, verlobt sich mit dem Nachbarsmädchen Wilhelmine von Zenge, beschäftigt sich mit Mathematik und Philosophie, bricht in Begleitung des Freundes Ludwig von Brockes nach Würzburg auf. In einem offenen Wagen fahren die beiden jungen Männer unter den Sternen dahin, bei Regen kriechen sie unter die Plane, die Zukunftsphantasien steigern sich. Als Kleist 1802 beschließt, Bauer zu werden, zerbricht die Verlobung. Kleist siedelt sich an in Thun in der Schweiz, mietet von April bis Juni ein Häuschen auf einer Insel inmitten der Aare – und beginnt, »recht eingeschlossen von Alpen«, sein erstes Drama zu schreiben.

Weiterführende Lektüre:
Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie
Christa Wolf, Kein Ort, nirgends
Auszug aus „Heimliche Helden“
von Ulrike Draesner