Womit man seine Lebenszeit wirklich verbringt

An Zahnärzten bemerkte ich das erste Mal, dass ich alterte. Anfangs waren sie mir in der Zeit voran. Weit voran. Das schien die natürliche Ordnung der Welt. Männlich waren sie zudem. Diese Ordnung änderte sich. Mit ihr verschwand die Kiste mit den kleinen Gummitieren. Der Zahnarzt meiner frühen Kindheit ging in Pension, in der Praxis, die folgte, wurden mir, der Zehnjährigen, die Trosttiere erst gar nicht mehr angeboten. Die neuen Dentalartisten, ein Ehepaar, waren Bohrkatastrophen. Sie, die nur nachmittags arbeitete, bohrte anders, aber nicht weniger als ihr Ehemann, es dauerte nur länger. Der Arzt, der das fatale Pärchen ablöste, war mir im Alter schon nahe, höchstens zehn Jahre trennten uns. Bei ihm fing ich Ende der 80er-Jahre mit besserer Zahnreinigung an. Amalgam raus, Scaling (Kratzen unterm Zahnfleischrand), Zahnseide. Ich träumte, dass ich Zähne spuckte, und fühlte deutlich, dass Lebenskraft mit Haaren und Zähnen verbunden
ist. Die ersten grauen Haare waren ebenfalls erschienen. Also begann ich, die Zahnseide tatsächlich anzuwenden und manchmal auch nach dem Mittagessen zu putzen. Das Lob der Zahnärztin oder des Zahnpflegers freut: Und wieder hat man geflosst. Wie gründlich man vorgeht, dann die Interdentalbürsten nimmt, weiterputzt per Hand, erst die Backenzähne, oben, unten, außen, innen, und noch spült. Eine kurze Rechnung (zehn Minuten Zahnhygiene pro Tag) auf der Basis eines Achtstundentages macht deutlich: Am Ende werden es, die 80 als Lebensalter vorausgesetzt, knappe zwei Jahre meines Lebens sein, die ich mit Zahnbürste und Schaum im Mund verbracht habe.

Und dafür lebt man dann? Dazu kommen Einkaufen gehen, Gemüse schnippeln, aufwischen, Wäsche waschen, Treppen rauf- und runterrennen, Schlüssel suchen (merkliche Zunahme der damit verbrachten Zeit um die 50), Fahrrad abschließen, aufschließen, irgendetwas online buchen, auf den Bus warten etc. Ich will die Summe gar nicht ausrechnen.

Ich befand mich in meinen Dreißigern, als mir diese Verhältnisse aufgingen. Leben machte mir Angst. Ständig musste ich etwas festlegen. Meine Stelle an der Universität München hatte ich gekündigt. Wie sollte ich meine Entscheidung, Schriftstellerin zu werden, überleben? Nicht nur finanziell, auch – innerlich. Ich war verletzlich, fühlte mich angreifbar. Schon der Umstand, sichtbar zu werden, schien gefährlich. Dass ich da war. Dass ich Platz einnahm. Platz war eine große Frage. Welchen? Und wie viel davon?

Ich wurde abwechselnd dicker und dünner, was keinerlei Problem löste, bestenfalls Geld kostete. Mehr Fett am Körper, um gepolstert zu sein. Oder so wenig essen, dass ich ätherisch aussah, durchscheinend, eine Art Möndchen mit großem Kopf und Riesenfüßen – an den Knochen schrumpft nichts weg. Die Zähne wurden dabei immer größer im Gesicht.

Und heute? Es tut mir gut, mich an diese Phase zu erinnern, denn ich möchte nicht zurück. Denke ich daran, sage ich fröhlich zu jeder Hitzewallung, »nur her mit dir«.

Doch halt. Sind meine gesammelten Akte von Widerstand, Revolution und Wildheit inzwischen also darauf geschrumpft, ohne Zähneputzen mit dreckigen Füßen ins Bett zu gehen? Ist das übriggeblieben von Partyabenden, Überraschungsnächten garantiert ohne Zahnbürste, Revolutionsgeist und Weltveränderung? Irgendwann war ich in meinen Vierzigern und die Mutter eines kleinen Kindes. Hatte ich abends die Zähne nicht geputzt, dann, weil ich total erschöpft beim Ins-Bett-Bringen meiner Tochter mit eingeschlafen war.

Auch bei meinen Zahnärzten passierte etwas. Daran, dass die Zahnreinigerinnen jünger waren als ich (weiblich, keine Änderung), hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Flossen und Bürsten, Seiden und Schaben halfen, es wurde nicht mehr gebohrt. Stattdessen zeigten sich nun die Zahnhälse. Meine Mutter hatte noch alle Zähne im Mund. Das munterte mich auf.

Inzwischen ist auch der Zahnarzt jünger als ich, er teilt seine Praxis mit einer Ärztin, die nicht seine Frau ist. Wenn sie bohrt, bohrt sie Inlays auf. Ihr Geburtsdatum liegt zwei Jahrzehnte hinter dem meinen. Ich flosse.

Abends und morgens stehe ich vor dem Spiegel und beobachte mich mit Bürste im Gesicht. Im Englischen sagt man, »I face myself«: Ich gesichte mich. Ich gebe mir ein Gesicht. Sieben Minuten am Tag, acht. Danach betrachte ich mein Zahnfleisch, meine Zähne und, seltsame Sache, es geht mir besser. Ich glaube, das Gefühl ähnelt jenem, das sich Autofans in früheren Jahrzehnten sonntags vormittags gönnten, wenn sie ihre Karosse per Hand wuschen. Es handelt sich um einen intimen Akt der Selbstsorge. Und, zumindest bei den Zähnen, größter Vertrautheit. Ich erkenne diese Formen. Nichts verändert sich. Anders als im U-Bahn-Scheibenbild stimmen Innen und Außen überein.

So ist das also mit dem Alter. Zumindest hier. Was das mit den Wechseljahren zu tun hat? Nichts und alles. Es passiert jedem. Ich stehe vor dem Spiegel. Bald werde ich 60 sein, denke ich. Uff! Im sechsten Jahrzehnt bin ich bereits. Anfangs klingt das heftig. In zwanzig Jahren, ich weiß, klingt es jung. Ich flosse meine Zähne mit dem dünnen und dem dicken Ende, das kommen wird. Wenn ich Glück habe: zweieinviertel Jahre Zähneputzen in meiner Lebenszeit. Mit undementer Deutlichkeit nehme ich wahr, wie wunderlich dieses »Glück« nach außen wirken muss. Aber falls mich jemand bitten sollte, mich selbst zu charakterisieren, habe ich ab heute wenigstens eine klare Antwort parat: Ich bin die, die sich darüber freut, zwei Jahre Lebenszeit mit Zähneputzen zu verbringen.

Still, nur für mich selbst werde ich denken: angesichts des Berges von Zeit, den ich gelebt habe. Angesichts des Geheimnisses dessen, was mich erwartet.

Ich öffne meinen Mund und beginne zu putzen. Ich fühle, dass ich grinse. Grinse wie ein Schädel. Er ist, was
übrig bleiben wird. Mein Schädel. Ich bürste, lache: Ja, ich sehe dich jetzt! Ich bin nicht allein.

 

Auszug aus: Ulrike Draesner: Eine Frau wird älter, Penguin Verlag, 2018.
Erscheint am 15.10.2018