zu lieben ist nach Abschluss deiner Nebelkinder-Trilogie zu Krieg, Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert nun ein sehr persönliches Buch über deine eigene Mutterschaft. Du erzählst darin die Geschichte deiner Tochter, die als Dreijährige aus einem Kinderheim in Sri Lanka zu dir nach Deutschland kam. Auf dem Cover steht als Genrebezeichnung Roman. In welchem Sinne ist die Geschichte wahr und was war deine Motivation, sie zu veröffentlichen?
zu lieben ist so wahr, wie es nur sein kann. Man verfälscht immer etwas, wenn man im Rückblick erzählt, man lässt natürlich auch Dinge aus, die lange Wartezeit auf das Kind etwa streife ich im Roman nur. Ich erzähle unsere Geschichte, weil ich erst durch mein Kind begriffen habe, dass auch ich, trotz aller Aufgeklärtheit, die ich mir gern zugesprochen hätte, in einer weißen Privilegien-Blase lebe. Und weil ich von Mutterschaft außerhalb des klassischen kleinbürgerlichen Familienmodells erzählen wollte. Familienbilder wandeln sich, immer mehr Menschen suchen nach neuen Formen des Zusammenlebens. Ich habe so viel über Bindung, Andersheit, Nähe und Nichtaufgeben gelernt in den letzten Jahren, und vor allem auch über den Mut zu lieben – daher kommt auch der Titel –, das wollte ich weitergeben. Ich verdanke zu lieben anderen Menschen, vor allem meinem Kind.
»Mama, du bist mein Erdgeschoss.«
Tief berührend erzählst du, wie die Liebe zwischen einer Mutter und ihrer Adoptivtochter im unerschütterlichen Auffangen wächst. Wie sich die anfängliche Fremdheit in eine vertrauensvolle Bindung wandelt. Die Ehe hingegen zerbricht. Also geht es in deinem neuen Roman (erneut) um die Geschichte einer Verwandlung?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der man nach außen verbirgt, was mit Schwäche oder Verletzlichkeit zu tun haben könnte. Mir scheint es als besondere Möglichkeit der Literatur, sich eben daran nicht zu halten. Nur so entstehen Nähe und Offenheit. Ich erzähle die Geschichte eines großen Glücks. Der Weg dorthin ist voller Verwandlungen, das stimmt. Er hat alles zu bieten, was wir aus Familien so kennen. Familien sind Räume der Intimität, der Enttäuschung, manchmal der Gewalt, des Verrates, aber auch der Nähe, der Seligkeit – und der Komik. Und der unglaublichsten Überraschungen, ich meine, dieser kleinen Augenblicke, in denen du etwas geschenkt bekommst, was dir selbst nie eingefallen wäre und was klein ist und riesengroß zugleich und für immer bei dir bleiben wird, weil du weißt, dass dir hier, an dieser Stelle etwas gelungen ist im Leben.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Mir fällt nur eines ein, das ich auch in zu lieben erzähle. Mary war fünf Jahre, glaube ich, sie saß am Küchentisch und malte, ich rührte Grießpudding, da kam sie zu mir mit ihrer Zeichnung, einem Haus mit Personen, und sagte: „Mama, du bist mein Erdgeschoss.“
Das war so wunderbar. Und ich brach in Tränen aus.
Würdest du zustimmen, dass im Titel zu lieben eine Aufgabe anklingt, vielleicht auch das Mühevolle, jedenfalls ein unabschließbares Tun?
Eine Herausforderung jedenfalls. Es gibt so viele Situationen, in denen es Mut braucht, um zu einer Liebe zu stehen oder sie überhaupt zu empfinden. Und sich dann zu ihr zu bekennen. Mit der Selbstliebe fängt es schon an. Und mit einem einzigen Mal ist es dabei meist nicht getan. Gerade auch einem Kind gegenüber, egal ob leiblich oder nicht. Immer wieder kommt man in Situationen, die einen überraschen und überfordern. Man steht da und schüttelt innerlich den Kopf. Wie kann dieser Mensch so sein. So ANDERS als ich … Und dann: wirft man sein Herz über die Hürde. Oder versucht es zumindest
Du bist schreibend zurückgekehrt zu sehr schmerzvollen eigenen Erfahrungen: zu Fehlgeburten und der jahrelangen Wartezeit, die der eigentlichen Adoption vorausgingen. Ebenso radikal offen wie anschaulich und humorvoll zudem erzählst du von der Anfangszeit mit deiner Tochter in Sri Lanka, nimmst einen mit in die drückende Hitze Colombos und hinter die Mauern des Waisenhauses zum ersten Kennenlernen des Kindes, das dich zunächst ablehnte, lässt einen teilhaben an der Entfremdung von deinem damaligen Ehemann. Wie viele Anläufe hast du unternommen, bis es dir möglich wurde, von alldem zu erzählen und was hat das Zur-Sprache-Bringen mit dir gemacht?
Das Buch hat eine ziemlich irre Entstehungsgeschichte. Mir ist das jedenfalls noch nie passiert. Ich saß an den Verwandelten, dem letzten Roman aus der Trilogie. Dort erzähle ich Mütter-Töchter-Geschichten im Strahlfeld des Zweiten Weltkrieges, es ging auch um verlorene oder weggegebene Kinder, um Adoptionen.
Das hat meine eigene Geschichte natürlich mit aufgewühlt. Meine Tochter war 16 und ich hatte lange den Plan gehabt, einmal mit ihr zusammen ein Buch über die Adoption zu schreiben, ihre Erinnerungen und meine im Wechselspiel. Aber es zeichnete sich ab, dass sie das nicht wollte. Und dann saß ich da im August 2022 am Computer – und der zu-lieben-Text kam. Sozusagen als Pause von den Verwandelten. Als ein Buch vom Glück. Ich fing an, ihn ins Handy zu sprechen. in mehreren langen Schüben, die sich über den Tag verteilten. Am Ende waren das, später abgetippt, etwa 60 Druckseiten. Ich habe dann weitergeschrieben, das hat nicht lange gedauert, drei Wochen vielleicht. Dann noch letztes Jahr das Lektorat, auch da war kaum etwas zu verändern. Und nun ist das Buch da. Ich empfinde es als Geschenk.
Die Familie, von der du erzählst, verdankt sich einer besonderen Konstellation: Ein europäisches Paar adoptiert ein Mädchen aus Sri Lanka. Und das bedeutet, es sind nicht nur zwei Mütter, zwei Väter und ein Kind beteiligt, aus unterschiedlichen Teilen der Welt (was komplex genug wäre), sondern auch Institutionen, Bürokraten, zwei höchst unterschiedliche Gesellschaften. Diese Situation scheint etwas eigentlich Unmögliches zu fordern: absolute Durchlässigkeit und gleichzeitig enorme Robustheit, Abwehrkraft, um einen Schutzraum zu kreieren. Wie ist das auszuhalten? Was macht es mit einem, mit dem eigenen Körper?
Es verändert, es fordert heraus, es ist anstrengend. In einer Erzählung von Heinrich von Kleist gibt es einen großartig lapidaren Satz, als die Hauptfigur eben gegen alle Regeln der Gesellschaft verstoßen hat. Kleist schreibt: „Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht …“ Daran musste ich manchmal während des Adoptionsprozesses denken, vor allem in der langen Wartezeit im Vorfeld. Ein Test und der nächste, Unsicherheit und das Gefühl, den Entscheidungen anderer Menschen einfach ausgeliefert zu sein. Es macht demütig, das zu erfahren. Der Roman setzt dann aber mit der Nachricht ein, dass das Paar losfahren darf, um „sein Kind“ kennenzulernen.
Auch die Form und Struktur deines Buches verweisen auf das Prozesshafte: in den kurzen Kapiteln, in durchgestrichenen Sätzen – und in Textbildern, die einzelnen Abschnitten vorangestellt sind: Hier wird Sprache/werden Buchstaben zu Bildern zu Welt. Was reizt dich besonders an diesen Sprach-Bildern?
Das ist eine interessante Frage, weil sie eine Kategorie aufbringt, die für mein Schreiben keine Rolle spielt. Es kommt nicht darauf an, was mich reizt. Der Text muss sich seine eigene Form erfinden, und ich als Autorin muss das zulassen. Die Idee der Buchstabenbilder ist eigens für zu lieben entstanden. Die Protagonistin ist von einem Tag auf den anderen die Mutter einer Dreijährigen, die läuft, rennt, neugierig ist, sich aber nicht berühren lassen möchte und die keinerlei „Welt“ kennt: weder Autos noch Herde noch Steckdosen noch Löffel etc. Vor allem aber kann die neue Mutter mit dem Kind nicht sprechen, da es naturgemäß kein Deutsch und leider auch kaum Singhalesisch versteht. Was tut man da? Das Leben beginnt, sich um Dinge zu drehen. Mit Hilfe von Dingen können die Eltern und das Kind miteinander kommunizieren. Irgendwann fiel mir auf, dass mit dem Auftauchen des Kindes Mary auch der Text begonnen hatte, um Gegenstände und deren gern auch mal unkonventionellen Gebrauch zu kreisen. So entstanden die Bilder zu Beginn ausgewählter Kapitel. Sie sind aus den Buchstaben zusammengesetzt, die den deutschen Namen des Dinges ergeben, etwa „Schrubber“ oder „Ehering“. Man kann die Bilder einfach genießen oder über sie nachdenken und dabei vielleicht etwas fühlen von der Unselbstverständlichkeit von Sprache, von der kindlichen Neuheit der Welt.
Was passiert, wenn man nicht über die Sprache eine Verbindung herstellen kann? Ist es ein Moment der Ohnmacht (für eine Autorin)? Oder dringt man so erst zum Kern dessen vor, was Sprache und Verbindung möglich macht? Zur Empathie? Wie, würdest du sagen, entsteht Nähe?
Sprache war für mich nie etwas nur Verbales. Sprache ist körperlich. Gestik, Mimik, Atem, Auge, alles spricht mit. Auch Töne sprechen – und damit kann man, wie wir alle wissen, wenn wir Interaktionen mit Säuglingen beobachten, sich durchaus verständigen.
Mary im Roman versteht Lachen oder die Geste des Schenkens, sie ist hochinteressiert an Handys und weiß das auch klarzumachen. Die Nähe entsteht durch einen Perspektiven-Switch: Die ständige Frage, wie nimmt das Kind mich oder uns wohl wahr? Wie viel Angst zum Beispiel machen wir? Wie kann ich sie ansprechen, wo steht sie, wie hole ich sie da ab? Komik, kleine Theateraufführungen, etwas extra nicht fangen oder mit einem Teller kämpfen waren sehr erfolgreich. Wir durften Mary drei Wochen lang immer nur im Kinderheim besuchen, jeden Vormittag und Nachmittag für ein paar Stunden. Abends war ich jedes Mal fix und fertig, man muss sich auch die Hitze und Feuchtigkeit in Colombo vorstellen. Dazu überall Sandflöhe, und du stehst stundenlang da und erzeugst Entertainment.
Zuhause, also nach der Rückkehr nach Berlin, fiel mir dann wieder ein, dass ich doch „eigentlich“ Dichterin bin. Also habe ich mir Sprachspiele ausgedacht, etwa Buchstaben immer schneller aussprechen, dabei die Zunge verknoten. Kurzum: Ich machte einen Narren aus mir, das war ganz wunderbar, beinah ist mir das Kind vor Lachen mal aus dem Stuhl gekippt.
»Ich erzähle unsere Geschichte, weil ich erst durch mein Kind begriffen habe, dass auch ich, trotz aller Aufgeklärtheit, die ich mir gern zugesprochen hätte, in einer weißen Privilegien-Blase lebe.«
Jede und jeder wird das Buch anders lesen – mich berührt deine vielfältige Wahrnehmungsfähigkeit, dein Wissen um die Fragilität, die man sein Leben lang mit sich trägt, wenn man als Kind einen solchen biografischen Bruch – einen Sprung vom Rand seiner Welt – erlebt hat. Die Adoption schreibst du, sei kein „unambivalentes ‚Unterfangen'“, vielmehr „Ein Auffangen, hoffentlich. Nichts Perfektes. Eine Bastelarbeit. Der Versuch, das Beste zu geben. Liebe zu geben. Raum zu geben. In für immer unabgeschlossenen Geschichten.“ Möchtest du mit dem Roman auch dazu einladen, über Elternschaft in einer Gesellschaft nachzudenken, in der immer mehr Kinder in ungewohnten Familienkonstellationen aufwachsen?
Unbedingt. Wir sollten uns dringend mit unserem Familienbegriff auseinandersetzen. Bio-technische Entwicklung in der Implantationsbiologie erzeugen längst Möglichkeiten und Fakten, die nicht einfach dadurch weggehen, dass wir nicht hinsehen. Als der Ukrainekrieg ausbrach, wurde vielen Menschen in der Bundesrepublik zum ersten Mal bewusst, dass es einen Leihmuttertourismus in die Ukraine gab. Unser Land hat eines der restriktivsten Embryonenschutzgesetze weltweit. Es stammt von Beginn der 90er Jahre. Hier besteht Diskussions- und Regulationsbedarf. Sowohl potentielle Eltern, Leihmütter wie Kinder müssen geschützt werden. Und wir müssen lernen, wie wir als Gesellschaft nicht-diskriminierend mit Kindern umgehen, also Familienidentität denken, wenn es mehr als zwei Elternteile gibt oder Kinder nicht in der bürgerlichen Kleinfamilie aufwachsen, dem Lieblingsmodell des letzten Jahrhunderts.
Inwiefern hat das Muttersein deine Weltwahrnehmung und dein Schreiben verändert?
Ich glaube, da gibt es ganz viele Aspekte und eben davon erzähle ich in dem Buch. Aber vielleicht greife ich einen heraus. Angesichts meines Kindes stellte sich mein eigenes Generationengefühl um. Ich stand mit einem Mal fühlbar zwischen Großeltern- und Kindergeneration. Ich war zwar bereits über 40, aber das Altern allein hatte das nicht zustande gebracht. Teile von mir waren heimlich Kind geblieben. Doch nun stand ich in der Mitte, die Arme fühlbar zu beiden Seiten ausgestreckt. Dort verbunden mit den Jüngeren, noch nicht Erwachsenen, da mit den Alten oder ganz Alten, die an Fähigkeiten und Unabhängigkeit verloren. Ich glaube, dass ich durch das Kind anders, tiefer, erwachsen geworden bin.
Etwas, das mir bei der Lektüre immer wieder nahe gegangen ist und mir imponiert hat: der Humor. Der nachsichtige und liebevolle Blick auf die Welt und das eigene Tun/Sein in mitunter schwierigsten, gar unmöglichsten Situationen: Ist er vielleicht das Geheimnis? Das, was es braucht, um zu lieben?
Das ist ein sehr schöner Gedanke. Wenn das Buch einen auf derartige Ideen bringt, dann ist mir etwas gelungen.
Roman,
Penguin Verlag