»Happy Ageing«
Daran, dass mein Innen- und Außenbild auseinanderklaffen (»huch, wer guckt mir da aus dem Spiegel entgegen?«), habe ich mich allmählich gewöhnt. Allen ist klar, dass ich älter bin; ich sehe es selbst im Spiegel oder in den Blicken der anderen. Und doch ist es für mich nicht mehr als halbe Wahrheit: gewusst, indes von innen bloß mitunter empfunden. Ich bemerke, dass inneres Alter sich bewegt – ich muss es ihm nur erlauben, ohne es (oder mich) von vornherein festzuschreiben.
Dies so, in dieser Stärke, zu empfinden, ist ein Ereignis des sechsten Lebensjahrzehnts.
Auf Schönheitsspritzen und Straffungsoperationen verzichte ich gern. In der Haut meines Gesichtes und ihren Spuren tritt etwas zutage, was mich mehr als entschädigt, ein einmaliges Geschehen, das ich zerstören würde, griffe ich ein. Zum einen teilen mir die sich in mich eintragenden und aus mir kommenden Falten etwas über mich und meinen Weg mit, was ich nicht wissen könnte, tilgte ich sie. Sie sind Vertiefungen, wörtlich und im übertragenen Sinn. Sie ziehen Summen, geben Gedächtnis. Zum anderen erzählen sie davon, wer ich werde. Welche Person mendelt sich da heraus? Aus mir – als ich. In welche bemerkenswerten, bislang unvertrauten Zukunfts- und Vergangenheitsräume führt mich dieser Vorgang? Denn, ich beobachte es seit zwei Jahren, andere Gesichter, vergangene Familiengesichter, tauchen in meinem Gesicht auf.
Unvermittelt fing es an. Weder als Kind noch als junge Frau sah ich irgendjemandem in der Familie sonderlich ähnlich. Sätze wie »Ulrike ist die Kopie von X« fielen nicht, obwohl meine Familie Ähnlichkeitsjagden und Zukunftsprognosen liebte (»die wird mal dick wie Tante Henny«, »und die Haare, schlimmer als bei Käthe, da werden die Friseure reich«). Je älter ich wurde, etwa ab der zweiten Hälfte meiner Vierziger, umso stärker trat eine für mich völlig unerwartete Wiedererkennbarkeit mit meiner Mutter hervor.
Hatte ich schlechte Familienangewohnheiten übernommen und entdeckte nun Ähnlichkeiten, wo – so hoffte ich – keine vorlagen? Sofort änderte ich den Haarstil, grundlegend. Bei einer bestimmten Frisur war meine Mutterähnlichkeit so unübersehbar, dass Leugnen sogar mir sinnlos schien. Das Haarmanöver half allerdings nur bedingt; ich weiß von der Ebenbildlichkeit, andere Menschen bemerken sie ebenfalls. Nach der ersten Überraschung ist das inzwischen in Ordnung, fast, wenn ich ehrlich bin, auch ein wenig angenehm. Eines allerdings ist sicher: In meinem Gesicht mit 20, mit 30, mit 35 Jahren gab es das nicht. Erst heute tritt diese Art von Zugehörigkeit hervor, und wer weiß, welche Menschen aus der Vergangenheit in den kommenden Jahren noch durch mich hindurchscheinen möchten.
Ich möchte sie erscheinen sehen. Auch das ist ein Teil des Blühens im und mit dem Alter. Ein weiteres Mal wird man neu geordnet in Bezug auf die Zeit. In Form von Menschen reicht sie durch einen hindurch.
Sechstes Jahrzehnt. Mit einer bloßen »Blütereform« für Frauen (dürfen nun auch zwischen 40 und 60 »beste Jahre« haben), die Verfall nur etwas nach hinten verschiebt, wäre uns nicht gedient. Angesichts des demografischen Wandels und der Altersprognosen für die kommenden Jahrzehnte hilft es nicht zu flicken. Das Sphinxmodell insgesamt muss durch einen stärker auf Gleichheit bedachten und freieren Entwurf ersetzt werden. Die unsichtbare Zeit wird gern als Weg dargestellt, alle traditionellen Uhren verfahren so (Sanduhren, Sonnenuhren, analoge Uhren). Nur bei der ersten dieser Uhrenarten geht es abwärts, die anderen zeigen Zeit plan an.
Statt der Linien von Aufstieg und Abstieg stelle ich mir auch den Lebenszeitprozess als ein Feld (eine Ebene) vor, das man ausschreitet, wobei die Wanderung vorwärts wie rückwärts wie seitwärts, in Kurven, mit Wendungen um 180 Grad oder manchmal hakenschlagend vorangehen mag. Verschiedene Stränge und Geschichten werden gelebt, Seitenpfade, Nebenwege, Sommergänge, Rodelbahnen entdeckt. Auch in Sackgassen biegt man ein. Drama gewiss, aber nicht überall, nicht familiär, beruflich und sozial zugleich.
Die Feldmetapher korrespondiert bereits mit zahlreichen unserer Lebensaspekte. Es wäre nützlich, sie auch darauf zu übertragen, wie wir unseren Alterungsvorgang denken. Auf einer planen Fläche sieht man weiter als im Gebirge. Entdeckt verblüfft, wie leicht man an einen Pfad anknüpfen kann, auch beruflich, den man im Alter von 30 aufgab, um sich etwas anderem zuzuwenden. Kaum malt man sich den Lebensgang als zusammengesetzt aus vielen Wegen ohne störende Gebirge auf, liegen mit einem Mal manche Kurven von damals und jetzt einander erstaunlich nahe.
In dieser Landschaft muss man niemanden eines angeblichen Abstiegs wegen »zum alten Eisen« erklären. Welch vielsagender Ausdruck: Alte sind Menschen, die Rost angesetzt haben und nun zerfallen? Und zwar ab 65? Ab an den Katzentisch, mein Lieber, und Brei löffeln.
Das verabschiede ich gern.
Der Begriff »Wechseljahre« passt zur Feldmetapher. Das Deutsche ist eine durch die konkrete Sinnlichkeit seiner Benennungen auffallende Sprache. Anstelle von »Metabolismus« sagen wir »Stoffwechsel«, der Appendix heißt anschaulich »Blinddarm«, und eine Entzündung kommt nicht als abstraktes Wesen daher, das allem ein -itis anhängt. Das Wort »Wechseljahre« ist von dieser direkt-metaphorischen Art, vergleichbar der regelmäßig unübersetzbaren Erfindung »Bindegewebe«. Es ist klug darin.
In der »Menopause« indes bin ich nicht. Die Vokabel klingt, als würde ich auf Pause gestellt wie ein alter Kassettenrekorder. Das Bild ist schief. Eine Pausetaste ist dazu da, erneut gedrückt zu werden, auf dass die Melodie sich fortsetze. Doch die Meno-»Pause« ist keine Pause. Man spielt nicht weiter wie zuvor. Dass das Wort suggeriert, dass man eben dies sollte, ist heimtückisch: Schon durch den Begriff, der sich der männlichen französischen Medizin des 19. Jahrhunderts verdankt, gerät man in eine Lage, die gar nicht anders als als Defizit aufgefasst werden kann (die Frau ist in einer Pause und bringt das Ding nicht wieder in Gang …). Dass man sich an den Ausdruck gewöhnt hat, macht ihn nicht minder hanebüchen und schädlich. Zur Pubertät sagen wir ja auch nicht »Kindheitspause«.
Darüber hinaus impliziert der Begriff, dass jetzt auch Sexualleben und Attraktivität »pausieren«. Doch noch immer bin ich kein Kassettenrekorder. Meine sexuellen Wünsche, meine Körperlichkeit und Attraktivität leben weiter. Von einem sozialen wie leibkörperlichen Wechsel dagegen spreche ich gern: Was Frauen zwischen 40 und 60 durchlaufen, ist eine Metamorphose. Eine weitere, große Veränderung, ein »change of life«. So hieß diese Phase im Englischen vor der Erfindung des Wortes »Menopause«. Also: eine andere Karte malen. Nicht Aufstieg und Abstieg, sondern Wege, die sich biegen, sich berühren, kreuzen, verzweigen. Der Muster, um sich sein Leben zu erzählen und Zeit zu strukturieren, bieten sich viele an. Alle sieben Jahre, heißt es, haben unsere Körperzellen sich einmal rundum erneuert, alle sieben Jahre ist man so oder so ein anderer Mensch (49, 56, 63). Meine Mutter benutzt den religiösen Kalender, sie lebt, weil es sie mit ihrer Kindheit verbindet, von Fronleichnam zu Fronleichnam, und mein Vater davon, jeden Abend die alte Standuhr im Wohnzimmer aufzuziehen, also einem 24-Stunden-Rhythmus zu folgen.
Zum Ende der Schulzeit litt ich darunter, dass man von mir verlangte, Fächer und dann ein Studium und damit einen Beruf zu wählen; Anfang der 80er-Jahre wurde, was man da tat, durchaus noch als »lebenslang« gedacht. Selbstverständlich verwählte ich mich (ich studierte Jura, weil das Fach wirkte, als könne man damit die endgültige Berufsentscheidung auf später verschieben). Von heute gesehen ist das, allemal in einem Aufstiegs-Abstiegsmuster, vollkommen sinnlos. Denke ich in Wegen, die auf einer Ebene liegen, sieht es sogleich anders aus: Dank des falschen Studiums ist mir nicht unvertraut, wie Juristen sich ihre Welten bauen, was zwischen Kantine und Bibliothek, Schreibtisch und illegal beschäftigter Putzkraft ausgehalten wird. In einem Roman, den ich mir lange schon vorstelle, aber noch nicht zu schreiben weiß, werde ich die Hauptfigur die Richterin, nein, besser noch Staatsanwältin sein lassen, die ich nie wurde.
Es entsteht eine Karte ohne eine angeblich spezifisch weibliche Wechseljahresstraße. Alter vollzieht sich, trifft jeden. Hormonale Veränderungen zwischen 45 und 60 sind Teil davon. Sie treten hinzu, hie und dort, als eine Farbe auf dem Weg, als weitere Rhythmusschicht. Dass das nicht unbedingt immer einfach ist, verdeutlicht bereits das Bild: Wir leben in mehreren Lagen von Raum, Zeit und Wirklichkeit. Auch als Frauen in den Wechseljahren, selbst wenn so manche Zuschreibung oder Einordnung das vergessen machen möchte. Diese Jahre mögen uns verändern, doch sie definieren uns nicht. Allemal machen sie uns nicht aus.
Wegekundig war die Königin von Saba. Mit Kamelen, beladen mit Spezereien, geritten von den Frauen ihres südlichen Reichs, reiste sie, so erzählen es die Bibel und der Koran, zu König Salomo. War er berühmt für seine Weisheit, war sie es erst recht. Die beiden testeten einander in Rätseln. Um Antworten zu finden, muss man um Ecken sehen. Oder Karten folgen, die ungewohnte Ähnlichkeiten zeigen. Am Ende soll die Königin die Klügere gewesen sein. Eine dunkle, reiche Frau, keine Sphinx. Eine Frau, die die Welt kannte und für sich selbst so gut wie im Zwiegespräch mit einem anderen wusste, wer sie war.
Sie bekam ein Kind mit Salomo, das sie mit nach Hause nahm. Sie regierte weiter ihr Reich.
Im Mittelalter wurde sie in eine Hexe umgedeutet. So viel zur Tradition.
Auszug aus: Ulrike Draesner: Eine Frau wird älter, Penguin Verlag, 2018.
Erscheint am 15.10.2018