Das Alter, das einem blüht

Meine Mutter war 33, als ich zur Welt kam, meine väterliche Großmutter wurde mit mir im Arm 70, was vor einem halben Jahrhundert etwas anderes hieß als heute. Als Kind hat man einen eigenen Blick auf die Generation(en) vor einem. Alter oder Schönheit nimmt man zunächst nicht wahr. Da ist, so schlicht wie überlebensnotwendig, ein Gegenüber: der Mensch, der einen versorgt. Und die ein und andere vertraute Stimme, verbunden mit einem vertrauten Geruch. Allmählich fokussiert sich der Blick. Die neue Schwangerschaft meiner Mutter entging mir als Zweijähriger gänzlich, was die Veränderungen des Bauches betraf. Und erst als ich zählen lernte, wurde klar, dass meine Eltern ein in Ziffern benennbares, von mir viele Positionen entferntes Alter hatten. Der Umstand allerdings, dass meine Mutter etwas wie alt sein könnte, kam mir darüber zu Bewusstsein, dass sie sich in bestimmten Situationen vollkommen anders verhielt als ich und ihrerseits dieses Altsein thematisierte.

Meine Mutter, stolz auf ihre schönen Beine, trug häufig diese 60er-Jahre-Damenschuhe, eng, spitz, hoch. Was dazu führte, dass sie sich auf bestimmte Weise bewegte und vielerlei Verhalten von vornherein, allein schon absatztechnisch, nicht in Betracht kam. So hatte sie sich, obgleich erst in ihren Dreißigern, körperlich extrem eingeschränkt. Ich kann mich an keine Situation erinnern, bei der sie mit mir am Boden gesessen hätte. Bestenfalls hockte sie neben mir, die Beine eng geschlossen (der Rock, der Anstand). Noch immer war sie höher als ich im Stehen. Schneidersitz blieb undenkbar; undenkbar, zum Spielen gemeinsam auf allen vieren zu kriechen. Sehr früh auch trug sie mich nicht mehr; regelmäßig indes legte sie Schmuck an, Ketten mit großen Anhängern und Ringe, die auf keinen Fall mit Knetmasse in Berührung kommen durften. Und dann die Frisur. Sie musste ununterbrochen gehütet sein, zum Beispiel auch, wenn meine Mutter schwamm (nicht nassspritzen und niemals den Kopf unter Wasser). All dies hieß für mich alt sein: Man bewegt sich kaum mehr und probiert das meiste nicht einmal mehr aus (schaukeln zum Beispiel, kopfüber hängen, Seil hüpfen); auch Purzelbaum vormachen wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Was das anging, befanden Mutter und Großmutter sich in dem gleichen fernen Universum der Statik und Langeweile, sie waren nahezu gleich alt.

Blaugrün gekachelte Küche, grau geschlierter Linoleumboden, ein halbwegs sonniger, wenn auch winterlichtiger Tag. Es scheint Mittag zu sein. Vor mir, an der Anrichte, befindet sich Mutters sprechender Mund. Halbprofil. Ich bin sieben Jahre alt. Das ist leicht auszurechnen, denn Mutters 40. Geburtstag steht an. Mutter sagt, niemandem in der Schule dürfe ich ihr neues Alter verraten. Als ich frage warum, dreht sie den Kopf für einen Moment ganz zu mir: »Frauen wollen immer 39 bleiben.«

Was meine Mutter von mir wollte, war schleierhaft; ihr Anliegen aber dringend – das fühlte ich. Es hatte mit Frausein zu tun – das erklärte sie mir. Mein Staunen nahm zu. Ich lernte eben erst, bis hundert zu zählen, doppeln durfte sich da nichts. Und nun dies: Der 40. Geburtstag war ein 39. Geburtstag, der 41. Geburtstag war ein 39. Geburtstag und so weiter.

Meinen Vater hatte der eigene 40. Geburtstag in keiner Weise bedrängt. Mich aber ging Mutters Alters-Schweigen als Frauensache etwas an. Auch das wurde vermittelt: »Das wirst du später verstehen« (sprich: genauso machen). Nur was? Klaffende Welt! Ich fand das sehr »erwachsen«, sprich wahrlich verschroben, und beschloss, mich nicht daran zu halten. Freudig erzählte ich in der Schule, egal ob jemand danach fragte oder nicht: Meine Mutter hat Geburtstag, es gibt Kuchen, extra viel, sie wird 40. 40 Kerzen, ebenfalls extra viel. Ich fand das schön, die anderen Kinder auch.

Meine Mutter hatte, wie man sieht, einiges zu leiden unter mir. Für mich blieb dieses Alterslügen erniedrigend.

In meinen Büchern oder auf meiner Website wird mein Geburtsdatum angegeben, es gehört zu mir, ist Teil meiner Identität, und dieses 39-Bleiben oder 49-Bleiben, nach außen hin, wollte ich niemals imitieren. Was täte man sich auch an, wenn man dann von 39 mit einem Mal auf 79 spränge, um 80 werden zu dürfen? All die Zeit zuvor hätte man sich der Möglichkeit beraubt, die eigenen Jahrzehnte als in vollem Sinn real zu erfahren, real auch dadurch und darin, dass andere davon wissen und sich auf einen selbst als Menschen in diesem konkreten Alter beziehen.

Der 50. Geburtstag meiner Mutter wurde nicht gefeiert. Nach ihrem 70. fing ich an, sie vorsichtig zu fragen, wie es mit dem Haarefärben weitergehen solle. Sie wurde 75. Ich fragte. Sie wurde 80. Ich fragte.
»Bei mir?«
»Bei wem denn sonst?«
»Ich färbe doch gar nicht.«

Ah, richtig. Mutter hatte schon mit der 39 zum ersten, zweiten und x-ten Mal diese »Natursträhnchen« in ihrem blonden Haar gehabt. Seltsam nur, dass alle Fotos zwischen ihrem zehnten und 35. Jahr sie mit braunen Haaren präsentierten.

»Zum Hundersten höre ich auf.«
»Versprochen?«
Sie nickte.
Die Hundert schien das kleinere Problem.

Heute ist meine Mutter 89 Jahre alt und trägt kräftiges Weiß. Es glänzt, sie wird darauf angesprochen. Nun, spät, ist sie auch hier über die Altersschwelle getreten. Fast wollte ich schreiben, zur Gänze erwachsen geworden.

Ich entdeckte mein erstes graues Haar mit 28 oder 29, noch bevor ich meine Dissertation abgegeben hatte. Seltsamerweise fand ich das daran gemein. Gemeiner waren nur die süffisanten Kommentare einiger 35-jähriger Akademikerinnen, sogenannter Kolleginnen, die fragten, ob ich mir die Strähne da vorn weiß färben lasse, weil das besonders schick aussehe. In Anbetracht meiner Gespräche mit meiner Mutter gab ich sofort zu, dass sich diese Härchen absolut von selbst färbten. Ebenfalls sofort standen diverse Spannungen zwischen Frauen im Raum: Was wird vorgelebt? Was blüht einem, ob man will oder nicht, mit den Jahren? Was wurde als Regelwerk verinnerlicht – und wird, allemal von Frauen gegenüber Frauen, scharf beobachtet und auf Einhaltung kontrolliert?

Die Redewendung vom Blühen gefällt mir. Das Alter, das einem blüht. In aller Doppeldeutigkeit, mitsamt der mitklingenden Drohung, aber auch verstanden als blühendes Alter. Gern folge ich diesem von der Sprache gemachten Vorschlag. Ihre Wendungen sind nie Zufall. In der Regel verbergen sie einen Gedanken, oft ein Stück Erfahrungsweisheit.

Blühendes Alter. Welch Konzept!

Und welch Vorhaben: Wir entwickeln ein blühendes Alter. Für alle Lebensstufen.

Ich muss an meine Großmutter väterlicherseits denken. Der Alterungsprozess, den sie mir an ihrem Körper, in ihrem Geist, mit ihrem Leben wies, hat mich geprägt. Es ist der Alterungsprozess, an dem ich bis zu seinem natürlichen Ende teilnahm, aus räumlicher und emotionaler Nähe. Meine Eltern leben noch, ihre beziehungsweise unsere Geschichten sind nicht abgeschlossen. Die meiner Großmutter sehr wohl. Am Ende erwartete uns alle, meine Großmutter inbegriffen, eine Überraschung.

Auszug aus: Ulrike Draesner: Eine Frau wird älter, Penguin Verlag, 2018.
Erscheint am 15.10.2018