Neutrum sein

Die Sonne scheint, es riecht nach Abgasen, Pommes, Ferien. Meine Tochter sitzt im Auto und weigert sich auszusteigen. Kopfhörer, Handy. Sie hört Harry Potter, auf Englisch. Unsere Welten überschneiden sich. Neben mir wird türkisch gesprochen. Ein Bus fährt auf den Parkplatz der Raststätte, etwa hundert über 80-Jährige steigen aus. Minuten später ein weiterer Bus, erneut voller Greise und Greisinnen. Alte Menschen haben Zeit. Alte Menschen und das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik stellen eine innige Verflechtung dar. Ich bin froh, dass ich die Toilette bereits besucht habe. Für die nächste halbe Stunde wird sie unbenutzbar sein. Ich schwöre mir, egal wie alt ich werde, niemals auf eine Altenbusreise zu gehen.

Jede Generation findet ihre eigenen Formen, mit den Lebensjahrzehnten umzugehen. Es gibt also Hoffnung, sage ich mir, auch wenn, wie wir alle wissen, die Zahl der über 60-, über 70-, über 80-Jährigen steigen wird. Und dann noch einmal steigen.

Die Sonne scheint, hat sich aber hinter Wolken versteckt. Mir ist angenehm warm. Genauer gesagt, ziemlich warm.

Nur mir?

Ich sehe mich um. Niemand beachtet mich. Jede Menge Männer unterwegs auf so einem Parkplatz. Was ist los mit den Männern, denke ich, was hat sich verändert, sie sind so zurückhaltend. Nach einer Weile ist klar: Nichts hat sich verändert. Es wird geschaut. Hinterhergeschaut. Jetzt fällt es mir wieder ein: Ach so, es liegt an mir. Ich bin es, ich stehe hier offensichtlich in dieser neuen Verborgenheit herum. Im Harry-Potter-Universum ist das praktisch. Harry wirft sich den Umhang über, der unsichtbar macht. Wenn er will. Hat er genug, zieht er ihn ab.

Als ältere Frau wirft man sich nichts um, sondern bekommt etwas übergestülpt. Schon ist man verschwunden, allemal neben einer jüngeren Frau. Höflichkeit oder Zuvorkommenheit verabschiedet sich gleich mit. Der Taxifahrer jüngst nahm das Trinkgeld, stellte die Quittung aus und dachte gar nicht daran, den Koffer aus dem Kofferraum zu hieven. Souverän blieb er sitzen, drückte den Knopf neben dem Steuer, damit die Klappe sich hob. Selbst ist die ältere Frau, die noch beweglich wirkt, nützlich, Eigenversorgerin doch mindestens.

Die Frau? Oder doch: das Neutrum?

Grotesk wurde es neulich in der Bankfiliale, als die Auszahlungsautomaten nicht funktionierten. Ich war die Letzte in der Schlange. Ein Mann meines Alters, einen Kopf kleiner, dicker Bauch, stellte sich vor mich. Als ich mich beschwerte, sagte er: »Du hast doch eh nichts mehr zu tun.«

Grotesk auch das Wesen, das in dem Haus putzt, in dem ich wohne. Um die 35, vierschrötig, Raucher. Vier Wochen lang ignoriert er mich. Ich grüße, wenn ich aus dem Lift komme, er sagt nichts. In der fünften Woche motzt er mich an. Ich habe zu viel Papier in die Tonne gesteckt. Die Tonne ist halb leer, aber er möchte seinen Müll bequem hineinschütten können. Interessanter Fall: Er versucht es mit Einschüchterung. Ich bekomme ab, wie es »normalerweise« zugeht zwischen jungen Machos und älteren Frauen. Freundlich führe ich das »Sie« zwischen uns ein, stelle mich vor und frage den charmanten Herren nach seinem Namen. Er setzt sich und raucht. Nun ist er kleiner als ich. Ungeschickt. Seinen Namen, sagt er, sage er nicht. Da die Hausgemeinschaft den Mann bezahlt, kenne ich seinen Namen so oder so. Wenigstens das muss ihm doch klar sein. Sein Gesicht hat sich verwandelt, ich sehe das schmollende Kind in der Schulbank. Offensichtlich nimmt er mich als Lehrerin wahr.

Auch das freundlichere, weiblich-männlich gemischte Umfeld, in dem ich mich im Alltag bewege – beim Einkaufen, in der Straßenbahn, als Publikum im Kino oder bei einem Konzert, als Mutter in der Schule, als fernere Bekannte, als Verwandte in der Familienkonstellation –, spiegelt mir überwiegend und mit einer Leichtigkeit, die verrät, wie tief die Klischees sitzen, dass ich nützliches Neutrum sein darf. Ich begegne Männern mit 45 Jahren, mit 60 Jahren, und bemerke an ihren Augen sowie in jeder ihrer Gesten, dass sie mich nicht als Frau wahrnehmen. Ich bin Hindernis, grau wie der Einkaufskorb, ein Zwischending. Dieses »Ding« darf auftreten als Vermittlerin, Helferin, Erzählerin, Essenslieferantin, Patientin, Konsumentin, ehrenamtliche Hummel, Bezahlerin und praktisch-fleißiges, mit Armen und Beinen ausgestattetes Menschmodul, das den Zwischenjob übernimmt. Auf einer Party fungiere ich als eine Art sprechfähiges Möbelstück: »Weißt du, wo der Flaschenöffner ist?« Fünf Minuten später erkennt mich der Frager nicht mehr. Er hat mich gar nicht gesehen. Zunehmend fühle ich mich umgeben von einer Watteschicht, durch die hindurch man mich für eine Art Wand hält.

Dieses mir angetragene, auf mir durchgeführte Frauenwesen, das so herrlich neutralisiert aussieht, so schweigsam und nützlich, ist eine Chimäre. Ganz wie die schöne Zweiteilung der Frau in hinten und vorn. Mit einem Lächeln, das ihren Schmerz nicht vollständig verbarg, erzählte mir eine Bekannte, Mitte 50, lange, blond(gefärbt)e Haare, ihr Mann habe jüngst ihr Äußeres kommentiert: »Hinten Lyzeum, vorne Museum.«

Munter nach der Devise: Das hast du nun davon. Dich gepflegt, Sport getrieben, Diät gehalten. Und ich sage dir das ins Gesicht.

Man sieht einen knackigen Po. Seine Besitzerin dreht sich um. Die Prägung durch Kultur, Bild und Werbung ist so stark, dass immer, automatisch, ein junges Gesicht erwartet wird. Doch da steht meine Bekannte, in ihrem Alter. Eine Person, weder in vorn noch hinten geteilt.

Eben dies soll offensichtlich nicht sein; hier muss man sich lustig machen. Eine Frau darf nicht alt sein, aber ist sie älter, darf sie erst recht nicht jung wirken (außer auf Bildschirmen). Sie darf nicht anders aussehen, als das Altersklischee »Neutrum« es vorsieht, und eines soll sie allemal nicht: auf »wirkliche«, heterogene, individuelle Weise in ihrem Alter sein.

Anders gesagt: Wo, wie und als wer kommt die Frau in den Wechseljahren in unserer Gesellschaft vor?

Manchmal ist mir nun doch, als wären die Männer ausgetauscht worden. Betroffen sind vor allem, aber nicht nur, die unter 60 Jahren. Also auch jene, die sich im gleichen Alter befinden wie ich. In der Regel unterhält man sich mit mir (nur), wenn ich Teil einer größeren Gruppe bin. Manchmal hat man auch Zeit für eine Begegnung mit mir zu zweit. Gesucht werden Rat, Coaching, Halbmütterlichkeit. Ebenso deutlich ist, was nicht interessiert.

Wie soll ich damit umgehen, nein: gut zurechtkommen? Ich fühle mich dabei lächerlich. Mich bedrückt, was mir widerfährt. Zugleich will ich mir diesen Schuh (Pause, Jenseits, auf dem Omaweg) nicht anziehen. Da ich keinen Verhaltenscode entdecken kann, der mir passt, muss ich ihn erfinden. Das ist sehr viel leichter gedacht als getan.

Wie sagt man auf Englisch: I am at a loss. Ich weiß nicht weiter. Aber auch: Ich gehe verloren; etwas in mir geht verloren. Ich brauche nicht danach zu suchen, denn nicht, was war, muss wiederhergestellt werden. Ich brauche etwas Anderes: mich selbst in meiner neuen Form. Als Frau, die weiß, wer sie in diesem Alter ist, welche Bedürfnisse sie hat, und die sich trotz Einschüchterungen nicht davon abhalten lässt, diese Bedürfnisse auszudrücken.

Hilfe kommt von völlig unerwarteter Seite, aus meiner Erinnerung. Hauptakteure: zwei ältere Männer.

 

Auszug aus: Ulrike Draesner: Eine Frau wird älter, Penguin Verlag, 2018.
Erscheint am 15.10.2018