Der (weibliche) Oberarm

Genau betrachtet, ist so ein Schädel ideal: knackig, fest, faltenfrei. Womit er den Regeln entspricht, wie man heutzutage auszusehen hat. Von der »sanft verblasenen« Schönheit sprach Johann Gottfried Herder, als er das Ideal der griechischen Skulptur 1770 für Deutschland wiederbelebte. Man nennt es »Klassik«: keinerlei Vertiefungen am Körper. Ziel ist ein weichgezeichnetes, mit einer Art Balsam überzogenes Gebilde milder Muskelrundungen und fettfreier Harmonie. Das Verdikt gegen Runzeln gilt von jeher stärker für Frauen – schließlich ist ihr bedrohlich tiefes Geschlecht aus Falten gebaut. Zunehmend trifft die Abscheuregel aber auch Männer, allemal, falls diese sich für Männer interessieren. Das Regime dieser Regeln ist trotz gegenteiliger Versuche (normalgewichtige Frauen auf Werbeplakaten, Kontrolle der Magersucht bei Models, Modeträgerin, die bereits 30 sind) strikter, um nicht zu sagen brutaler geworden in den letzten Jahrzehnten. Unsere Medien- und Bilderwelt wird dafür (mit)verantwortlich gemacht. Gewiss, sie beschleunigt den Umlauf, globalisiert Normen, hilft deren Durchsetzung mächtig auf die Sprünge. Der eigentliche Grund
für die Macht der Jugendregeln jedoch liegt anderswo. Ich erinnere mich daran, wie in den 90er Jahren ein neu definierter Fitnessgedanke Platz griff. Fit musste man sein, weil man sich Krankheit nicht leisten konnte. Und zwar weder individuell noch gesellschaftlich. Man dachte zum Entsetzen der Tabaklobby nun noch einmal über das Rauchen in öffentlichen Räumen nach, zog Konsequenzen. Die neue »awareness« bewirkte aber auch, dass heute jeder für seine Gesundheit selbst verantwortlich ist. Sprich: Wer zu dick ist, wer krank wird, wer einen Herzinfarkt erleidet, hat persönlich versagt. Er liegt anderen auf der Tasche, verhält sich asozial, ist »schuld«.

Diese Zuschreibung ist brutal. Sie erinnert an so grausame wie gefährliche Vorstellungen von »Vollmenschentum«. Doch statt uns vor diesem Denken zu hüten, lassen wir es auf unsere Auffassung vom Altern übergreifen. Wer alt wird, ist ebenfalls selbst daran schuld. Wenn es schon passiert, sollte man es wenigstens verbergen. Denn am allerschuldigsten ist, wer alt aussieht: Sie (er) lässt sich sträflich gehen. Das wird sanktioniert. Wozu schließlich sind Haarfärbemittel so billig, dass jede sich die Anwendung leisten kann, nein, leisten muss.

Die Schuldkategorie offenbart, welch religiöse Züge das Thema angenommen hat. Metaphysik, verlagert an die Haut-, Nasen- und Busenfront. Denn hinzu kommt unsere Angst vor dem Tod, gepaart mit der sehr menschlichen Neigung, Unangenehmes lieber nicht wahrzunehmen. Niemand betrachtet Schwäche, Krankheit oder Alter gern; sie erinnern an die eigene Sterblichkeit. Weil dem so ist, haben wir all dies von der Straße geräumt. Wer schwach ist, versteckt es. Wer krank ist, wird versteckt. Wir leben in Mittelbarkeiten. Haben Sie eine Geburt mit durchgestanden, lange an einem Totenbett gesessen, jemanden sterben sehen?

Dabei habe ich die Vielzahl von Schönheitsoperationen noch gar nicht erwähnt. Lippen voller, Nasen kürzer, Busen größer. Silikon rein, Fett raus. Magenverkleinerung ist seltener, da kompliziert. Als äußerst beliebt erweist sich inzwischen die Schamlippenkorrektur, vorgenommen im Alter zwischen 40 bis 60. Ein Geburtstagsgeschenk. Da man sich seit gut einem Jahrzehnt auch in Deutschland umfassend rasiert (Haare gelten als zu unmittelbar, sprich leicht schmutzig, versammeln Gerüche, manche sagen: wirken erwachsen), fällt auf, wenn da etwas hängt. Die Vagina auch der nicht mehr menstruierenden Frau soll, Überraschung, nach Jugend aussehen, jungfräulich-unbenutzt. Man nennt es den Brötchen-Look. Zwei Kinder auf die Welt gebracht, bitte spurlos. Und am eigenen Körper: Kindlichkeit und Asexualität ahoi.

Und da, in dieser Konstellation, tritt man ins sechste Lebensjahrzehnt. Ich wende mich dem weiblichen Oberarm zu.

Mein rechter Oberarm fiel mir auf, als ich jüngst meine Mutter stützte. Leicht gebräunt, kurze Ärmel. Da ich aufgrund von Rückenbeschwerden seit Jahren Sport treibe, wirkte das Stück Arm jugendlich. Haut glatt, Körperteilalter: 25.

Meine Mutter musste gestützt werden, weil sie baden wollte, allerdings, wie sie verlegen zugab, nicht mehr auf einem Bein stehen kann. So kommt sie schlecht hinein in die heimische Wanne, ein hochwandiges, altes Modell, und ohne Hilfe kommt sie gar nicht mehr aus ihr heraus.

Ich erfuhr, dass viele in fortgeschrittenem Alter mit diesem Problem kämpfen. Anfangs steht man nicht mehr auf einem Bein aus Angst zu fallen, nach einer Weile kann man es nicht mehr. Der Körper verlernt, sich im Gleichgewicht zu halten, doch müsste dies nicht sein. »Nicht mehr auf einem Bein stehen können« ist selbst induziert, es erwächst aus einem der körperlichen Gebrechlichkeit vorauseilenden mentalen Bild von dieser Gebrechlichkeit.

Oberarme indes! Oberarme, dachte ich, sind anders. Frauen lieben (männliche) Oberarme. So Thomas Mann in seiner Wechseljahreserzählung Die Betrogene.

Frauen haben Oberarme, so ich. Auch die sollen sie lieben. Oberarme folgen eigenen Gesetzen, genetisch, epigenetisch, weiblich.

Auf der Rückseite sitzen Fett und Alter vergnüglich zusammen (genau: dort, wo gern auch der BMI gemessen wird) und zeigen sich. Etwas (Schwabbelneigung, Fettanlagerung) gibt sich von Generation zu Generation weiter, nur wie? Warum werden bestimmte Programme oder Eigenschaften aktiviert, andere nicht? Von dark matter spricht die Wissenschaft; dunkle genetische Materie bestimme, wie aus dem immer gleichen Stoff Fliegen oder Menschen zusammengefügt werden, straffe oder schwabbelige Gliedmaßen. Dark matter. Weil man fast nichts weiß.

Mein Oberarm ist white matter, vor allem aber matter. Die Oberschenkel habe ich von Oma Käthe geerbt (so der genetische Adlerblick meiner Mutter). Aber die Oberarme. Diffus. Einfach »weiblich«. Die Rückseite schrumpft kaum, wenn ich abnehme. Der Bauch schrumpft, die vordere Seite des Armes schrumpft, die Rückseite bleibt. Bizeps und Trizepstraining sind möglich. Die Wirkung lässt auf sich warten. Wenn man nicht mehr warten will, kann man sie suchen. Vielleicht sollte ich doch eine Lupe …

Die bessere Lösung lautet Langarmkleidung. Wären lange Ärmel nicht manchmal etwas heiß. Auch eine Idee: Fell. Ich bin sicher (langjährige Beobachtung), dass alternde Hündinnen trotz Befellung nicht an Hitzeschüben leiden. Das Oberarmproblem stellt sich in ihrem Fall ebenfalls nicht.

Ich lasse den Oberarm Oberarm sein. Schließlich gibt es noch den Unterarm. Unterarme sind ermutigend. Ein mögliches, altersbedingtes Unterarmproblem – über die gesamte Länge zwischen Ellenbogen und Handgelenk hängt ein schrumpeliger, an einen Hühnerhals erinnernder leerer Hautsack – ist, wie ich im Fitnessstudio immer von Neuem beruhigt feststelle, absolut geschlechtsunabhängig.

Und vermeidbar. So der Cheftrainer. Man müsse nur etwas Zeit investieren. Bislang hatte ich Menschen mit Hühnerhaut-Unterarmen als Opfer genetisch bedingter krasser Hautalterung bedauert. Falsch. Wabbelige Unterarme rühren von Muskelschwund. Abermals erschienen mir die Wechseljahre in vielversprechendem Licht: Davon konnte in dieser Lebensphase noch nicht die Rede sein.

Der Trainer aller Trainer nickte, wenn auch zögerlich. Wir kämen hier zurück zu der Fähigkeit, auf einem Bein zu stehen. Ab 50 würden Muskeln sehr viel schneller abgebaut als zuvor. Sozusagen naturgemäß eher abgebaut als aufgebaut. Fast nur mehr abgebaut. »Außer«, sagte er und wies auf den gut 70-Jährigen, der jeden Tag für eine Stunde das beste Laufband blockierte. Kräftige Beine, keinerlei Hautsack. Außer, sagte also der oberarmbetonte Vorturner, man arbeite dagegen an. Alterung finde statt, wenn der Körper meine, sie sich leisten zu können. Gebe man ihm das Signal, dass Muskel X gebraucht werde, werde Muskel X behalten.

Leicht deprimiert trabte ich von dannen. Da hatte ich es wieder: Geistes- wie Körperhaltung beeinflussten einander. Wollte ich nicht gern daran glauben? Leider zeitigte das auch Konsequenzen. Bequem die Frage: Wie dachte ich über mein Altern und Altern generell? Unbequem die Folge: Welche Aufgaben stellte ich mir also? Was aus meiner unmittelbaren Lebensumgebung eignete ich mir als Muster an?

Ich kaufte einen Hometrainer. Ein Hometrainer ist als Einrichtungsgegenstand nicht schön, lässt sich aber von der Steuer absetzen. Zudem fühlte ich mich, als es mir gelungen war, das Ding mit der Hilfe nur zweier, nacheinander eingesetzter Freunde betriebsfähig aufzubauen, mindestens so stolz wie mein greiser Vater nach dem Besteigen der Leiter.

Der Trainertipp stammte von einer Bekannten. »Basiswissen«, sagte sie: Wechseljahre bedeuten, dass der körperliche Energiehaushalt sich ändert. Wenn man sich helfen will, setzt man dies im eigenen Lebenswandel um. Mit den Wechseljahren muss der Körper neue Weisen (er)finden, mit Kraft umzugehen – sie abzubauen und zu erneuern. Auch so kann man Hitzeschübe und Traurigkeit, Stimmungsschwankungen und halb durchwachte Nächte verstehen.

Mein Internist bestätigte: Solange man monatlich blutet, schwingt durch den weiblichen Körper ein Pendel, das für Energieaufbau (Blutbildung, Anlagerung) und Lösung dieser Energie sorgt. Dieser Rhythmus bricht mit der Hormonumstellung ein. Der Körper und die Psyche, das gesamte Frauenwesen, brauchen einen frischen Modus, um Kraft, Spannungen, Müdigkeit, Überschüsse zu regulieren. Gezielt herbeigeführte physische Erschöpfung helfe dem Körper, diesen Rhythmus anders als auf der bislang gewohnten Hormonbasis für sich zu erzeugen. Wie von selbst stelle sich auch der Schlaf wieder ein.

Musik in meinen Ohren. Wenn ich mitten in der Nacht, genauer um 3.05 Uhr, aufwache und auf den Hometrainer krieche, denke ich daran. Bin ich ein Hamster? Es fühlt sich so an (im Laufrad). Dann hätte ich wenigstens ein Fell (hallo, Oberarm) und dürfte mir ständig die Backen mit Nahrung vollstopfen. Der nächste Hitzeschub immerhin ist abgewendet: Ich kann ihn gar nicht mehr bemerken, so sehr schwitze ich.

Danach schlafe ich mühelos ein. Bis um 6.20 Uhr der Wecker klingelt. Mein Kind muss in die Schule. Und wo fängt der Schultag an?

Bei mir.

Sage ich doch: Ich bin in jeder Menge Alter zugleich.

 

Auszug aus: Ulrike Draesner: Eine Frau wird älter, Penguin Verlag, 2018.
Erschienen am 15.10.2018