Astrid Lindgren klettert auf einen Baum

1974 amüsierte sich die schwedische Fernsehnation über Astrid Lindgren, 67 Jahre alt, die zum 80. Geburtstag ihrer Freundin Elsa Olenius mit dieser zusammen um die Wette auf einen Baum kletterte. Schließlich gebe es »kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern«.

Das ist ein Satz im Pippi-Langstrumpf-Geist. Die bekanntlich gleich zu Beginn des ersten Buches rückwärts nach Hause geht und fragt: »Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte?«

Selbstermächtigung heißt das Schlüsselwort. Beispiele gibt es zunehmend. Prominente und Künstler, mag sein, hatten es damit von jeher leichter. Bestimmt nicht leicht war Alessandra Ferris Weg. Sie tanzt mit 55 Jahren Ballett. Klassisch und modern. Da das jenseits der Grenze von spätestens 40 angeblich nicht möglich ist, jedenfalls weder vorgesehen noch erlaubt, beendete Ferri, geboren 1963, ihre Karriere im Jahr 2007. Doch die Ballerina hielt das Nichttanzen nicht aus – und bemerkte, dass ein Verzicht auf den Tanz auch nicht nötig war. 2013 kehrte sie auf die Bühnen zurück, zwei Preise wurden ihr seither verliehen. Ferri bringt etwas in den Tanz, was Jüngere nicht haben. In einem Onlinevideo kann man sie als Penelope erleben. Danach fragt man sich, wie man Rollen dieser Art, die von Erfahrung und Altern handeln, mit 25-Jährigen besetzen wollen kann.

Jüngst besuchte ich eine Veranstaltung mit Margaret Atwood. Die Kanadierin war hellwach, witzig und wortgewandt, mehrfach überraschte sie die gut vorbereitete Moderatorin. Es war ein Heidenspaß, die beiden Frauen interagieren zu sehen. Das Ereignis fand im ehrwürdigen Sheldonian Theatre der Universität von Oxford statt, erbaut als Stätte akademischer Zeremonien, für Jahrhunderte Männern vorbehalten. Darin also Atwood, springlebendig mit ihren 76 Jahren, aus denen sie so wenig ein Geheimnis macht wie aus dem Grau ihrer Haare, und die jüngere Akademikerin, um die 45, eine Matchpartnerin. Da hätte Gertrude Stein, Königspudel auf dem Schoß (auch Hunde dürfen das Sheldonian gemeinhin nicht betreten), neben Alice Toklas, beide matronenhaft (wie das täuschen kann), sich ebenso amüsiert wie Marie Curie, eine der vielen Forscherinnen, die, Alter hin, Alter her, ihre innovative, absolut originelle und geniale (ja, das Wort lässt sich auch auf Frauen anwenden) Arbeit weiterführten.

In zeitgenössischen Romanen erscheinen sie inzwischen ebenfalls häufiger als zentrale Figuren: sich ermächtigende Frauen in höherem Alter. Sowohl in Atwoods Der blinde Mörder als auch in dem Roman Abbitte von Ian McEwan treten sie darüber hinaus zugleich als die Autorinnen des Werkes auf, das man liest. Doppelte Handlungsmacht: agierende Personen in der Zeit, von der erzählt wird, und in der erzählten Gegenwart, Eigentümerin und letzte Interpretationsinstanz einer Geschichte. Intelligent und vital erzählen sie, was war, hätte sein sollen oder sein können, und verändern durch dieses Erzählen nachträglich die Wirklichkeit. McEwans Briony fälscht bewusst ein Stück Lebensgeschichte, enthüllt dies aber am Ende und versetzt uns als Leser in ein Dilemma – wollen wir die Wahrheit wissen oder sehnen wir uns wie Briony nach der Fiktion, die ein glücklicheres Ende für Brionys Schwester und ihren Geliebten bereithält? Atwood arbeitet mit einer Fantasy-Geschichte als Roman im Roman, öffnet Grenzen zwischen den Genres, überblendet Lebensberichte, Erfindungen, Lügen und klettert auf mehr als einen Baum.

Das ist umso schöner, wenn man es mit der Rolle der mittelalten Frau im Roman des 19. Jahrhunderts vergleicht. Auch wer nie einen dieser Romane gelesen hat, ist mit ihr vertraut: In Serien und Kostümfilmen feiert das Rollenklischee seine Unverwüstlichkeit. Die Frau um die 50 ist eine lächerliche, im besseren Fall tragisch-lächerliche Kupplerin: Mutter, Ehefrau, Verkörperung von Geldsucht, Bösartigkeit und/oder Naivität. Hart ist die Konkurrenz um die reichsten unverheirateten Männer, groß der Klatsch, übertroffen allein von Dummheit, Erfahrungsmangel, Aufstiegswut. Zerrbilder der Machtlosigkeit bevölkern den sozialen Raum. Ziehen die Töchter schließlich unter die Haube, bleiben die Mütter allein zurück: Häkelarbeit, Dorf, Ehemann. Oh ja, sie sind in den Wechseljahren: liegen im Bett, erleiden Nervenzusammenbrüche, brauchen Tee. Beim Tanz sitzen sie am Rand und schauen den ständig nachwachsenden Mädchen zu, installiert als Wächterinnen und Neiderinnen, zuständig für Benehmen und Moral. Sie gehen zur Kirche, peitschen die Regeln durch. Sie altern und altern und werden ewig sein. Ihre unselige Rolle spukt bis heute durch unsere Köpfe: Matrone, Schreckschraube, Gouvernante, schwiegermütterliche Terroreinheit, verbiesterte Vergangenheit.

Sieht man dies, fragt man sich gern mit Mia, der Protagonistin von Siri Hustvedts Roman Der Sommer ohne Männer: Wo beginnt das Ich, endet das Du? Wie viel Selbst ist tatsächlich »selbst« – oder durch Normen, äußere Einflüsse und andere Menschen gemacht? Kurzum: Wer kann ich sein als mittelalte Frau, die mit einem Mal wieder allein im Leben steht?

Mia, Journalistin von Beruf, befindet sich mitten in den Wechseljahren, als sich Ehemann Boris, Neurowissenschaftler im siebten Lebensjahrzehnt, eine Beziehungspause nimmt. Die Pause spricht französisch, hat einen bedeutenden Busen und ist zwanzig Jahre jünger als Mia. Drei Jahrzehnte Ehe sind erst einmal dahin. Die Geschichte verläuft denkbar banal, so Mia selbst. Ungern auf Pause gestellt, produziert sie einen Energieausbruch, der sie für eineinhalb Wochen als »quite mad« in eine psychiatrische Klinik katapultiert. Von dort zieht sie weiter in die Kleinstadt in Minnesota, in der sie aufwuchs, um sich zu erholen. Sie beginnt ihren Sommer ohne Männer.

Ohne Männer, mit Frauen: Mias Mutter und deren Freundinnen in der Seniorenwohngruppe, für die Mia weiterhin »das Kind« ist. Eine Gruppe junger Mädchen, überschießend weiblich, ohne damit umgehen zu können, idealer Hort von Intrigen und Konkurrenz, die Mia im Schreiben von Gedichten unterrichtet. Und Mia selbst mit Kindheitserinnerungen, Zukunftsphantasien, Spiegelungsbedarf, einem Körper von früher und jetzt. Siri Hustvedet ist Jahrgang 1955. Verweise auf Jane Austen fehlen ebenso wenig wie spitze Bemerkungen zur Gegenwart. Der Roman ist intelligent, unterhaltend, »quite true«. Es gelingt ihm, diffuse Gemütszustände in Worte zu fassen: was einen anweht, wenn man kein Baby mehr bekommen kann, aber eines durch die Tür schreien hört. Die beiden Kleinkinder, die neben Mia wohnen, gehören zu Lea, die soeben lernt, Mutter zu sein. »Change« – mit großem C geschrieben das Euphemismuswort für die Wechseljahre in der amerikanischen Welt – betrifft als »change« mit kleinem c jedes Frauenalter. Alle lernen etwas, alle wechseln die Identität.

Die schönste Antwort auf Mias Fragen allerdings geben die fünf Schwäne, so Mias Name für ihre Mutter und deren Freundinnen. Ihnen steht der letzte Wechsel bevor, vielleicht sind sie deswegen so erfrischend subversiv. Siri Hustvedt zeigte schon in ihrem Roman Was ich liebte, wie gut sie Kunstwerke erfinden kann, die hintergründig humorvoll gesellschaftliche Verhältnisse untergraben. Diesmal legt sie die Kunst vor allem in die Hände Abigails, Königin des Stickens und der Applikation. Brav kommen Abigails Werke daher. Ein Tischläufer mit Weihnachtsbäumen. Zieht man den Reißverschluss auf der Rückseite auf, darf man auf eine Reihe bunter Frauen schauen, die sich selbst befriedigen. Und auch der Teekannenwärmer hat es in sich: Dreht man ihn um, präsentieren Monster ihre Fratzen.

Fälle von Altersfreiheit, Altersgewinn. Mia mittendarin, die Arme nach beiden Seiten gestreckt. Mia erlaubt sich, sich neu zu lesen. Sie weinte, als Boris vermeldete, mit der Pause zusammenzuziehen. Ironisch kommentiert sie selbst: »Ich reagierte wie eine Frau.«

Abigail hätte gewiss ein aufmunternd besticktes Taschentuch beizusteuern. Mit Königin! Im Gegenzug könnte Mia den Rat ihrer Ärztin weitergeben: »Tolerating cracks is part of being alive« – Risse aushalten ist Teil unserer Lebendigkeit.

Die Königin setzt Alter voraus. Die anarchischen Schwäne kennen sie längst, Mia entdeckt sie. Ihre Macht stammt von außen wie innen. Allerdings hat ihre Krone eine »märchenhafte« Eigenart. Sie muss geschätzt und gehütet werden. Sonst wird sie nach außen hin unsichtbar.

 

Auszug aus: Ulrike Draesner: Eine Frau wird älter, Penguin Verlag, 2018.
Erschienen am 15.10.2018

 

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Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lindgren_1960.jpg